Heute bin ich wieder in meinem eigenen Bett aufgewacht. Obwohl ich noch Ferien habe, ist es dennoch etwas komplett anderes, zu Hause zu sein. Mein Geist wandert nicht zu den Dingen, wie ich heute den Tag verfaulenze sondern zur Waschmaschine, dass ich das Gepäck noch aufräumen muss, einkaufen, Garten …
Und obwohl ich mich noch gar nicht um meine Pflichten kümmern muss, sind sie in meinem Kopf präsent.
Aber es ist auch schön, wieder zu Hause zu sein: das Bett quietscht nicht mehr, in der Dusche kann man sich umdrehen, ohne irgendwo anzuecken und wir dürfen einen neuen Mitbewohner begrüßen: eine mexikanische Königsnatter, mit der sich Karin einen sehnlichen Wunsch erfüllt hat. Herzlich willkommen im Alltag der Seyfarths.
Wer verdammt ist auf die Idee gekommen, bei fast 30 Grad im Schatten eine Wanderung zu machen?
Ach – ooh – äääh, das war ja ich. Ich wollte einfach heute nicht zu Hause rumsitzen. Niklas hat uns mit dem Auto nach Monastero Bormida gefahren, übrigens ein süßes Städtchen, und von da aus sind wir gestartet.
Jetzt stehen wir hier am Hang, steigen in der brutzelnden Sonne den Berg hoch und überwinden unsere ersten 300 Höhenmeter. Es ist heiß, die Wege sind teilweise zugewachsen und trotzdem ist es schön. Die Piemonter Alpen sind alles andere als überlaufen. Heute scheinen wir die einzigen Wanderer zu sein.
Bei der Wahl der Strecke habe ich überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass es richtig bergauf gehen könnte – ja klar – ein paar Höhenmeter waren schon eingeplant, aber die Landschaft vermittelt mir eher ein Gefühl von Weserbergland. Da ist man schnell auf einem Berg. Dass wir am Ende insgesamt 700m hoch und 300m runter, 10km weit und das in weniger als drei Stunden gelaufen sind, überrascht mich dann doch ein bisschen.
Ich wollte schon seit unserem Urlaub an der ligurischen Küste 1984 mal hier in Nordwestitalien wandern gehen. Heute ist es wahr geworden. Wir wandern an vielen Mauern entlang, die das Land in Terassen gliedern, wir naschen von den Weinreben und Feigenbäumen. Alles wird gerade reif, es schmeckt süß und duftet. Wir stehen in der Wiese, schauen über die Täler in die Ferne und genießen das Grillenkonzert. Schmetterlinge und Libellen fliegen um uns herum und die Hunde auf den verstreut liegenden Höfen kläffen uns an.
Und Olav flucht immer wieder, wenn er auf den schmalen Pfaden durch ein Spinnennetz läuft. „Lass mich doch vorausgehen“, biete ich ihm an, aber irgendwie gehe ich langsamer und nach kurzer Zeit ist Olav wieder vorne. Ich bekomme gar nicht mit, wann er an mir vorbeizieht.
Zum Abschluss gönnen wir uns einen Cappuccino in der Kneipe in San Giorgio und dann springen wir zu Hause in den Swimming Pool. Das kühle Nass ist genau das richtige für müde und von Dornen zerkratzte Füße und Beine.
Beim Frühstück verkünde ich: „Heute schwimme ich tausend Meter!“ Eigentlich ist es ein Scherz, aber einmal ausgesprochen klingt das gar nicht so übel. Ich war in den letzten Tagen nur faul, habe gelesen, gerätselt, rumgelegen und konnte mich zu nichts aufraffen.
Mit einem flachen Kopfsprung springe ich ins Wasser und schwimme los. Nur schnell an die Kälte gewöhnen, ohne Zögern. Meine Disziplin ist das Brustschwimmen. Ich gleite flach über das Wasser, mein Atem sprudelt in großen Blasen um meine Augen und Ohren. Ich ziehe meine Arme unter die Brust, beuge den Oberkörper hoch und atme tief ein. Mit einem kräftigen Beinschlag strecke ich mich wieder lang aus.
Das Becken ist etwa zehn Meter lang. Jedes Mal, wenn ich am Rand eine Wende mache, zähle ich einen weiter. Bei Zehn lege ich einen Stein auf den Rand des Schwimmbeckens.
Ich bin gespannt, was mir so alles für Gedanken kommen werden, während ich schwimme. Ob sich mir daraus vielleicht eine Lebensweisheit erschließt. Und es kommen viele Gedanken.
Ich spüre das kühle Wasser an mir vorbeigleiten, spüre meine Muskeln, beobachte meine Bewegungen. Ich merke wie verspannt meine Muskeln in den Schultern sind, den leichten Schmerz, den die Bewegung im linken Knie auslöst (nach einigen hundert Metern ist das linke Bein gut, dafür ziept das rechte) und fange an mit der Bewegung zu spielen. Mal spanne ich die Schultermuskeln bei ihrem Einsatz bewusst an, mal entspanne ich meinen Nacken, strecke meine Halswirbelsäule. Es knackt. Statt der Wende rechts herum versuche ich die Wende links herum. Es ist eigentlich nicht Denken, sondern eher Nachspüren. Variieren. Ausprobieren. Zählen. Bei der drei in meinem Kopf schaue ich auf die drei Steine, die schon am Rand liegen und mir wird bewusst, dass ich schon auf dem Weg zum vierten Stein bin. Wenn ich zehn Steine habe, kann ich einen für die Tausend hinlegen. Das wären dann elf Steine.
Dieses bis Zehn Zählen ist einfach. Es ist nicht zu viel, nicht zu weit. Und man kann die anderen neun Male bis Zehn Zählen ausblenden. Nicht ganz, aber genug um nicht an die gesamte Strecke denken zu müssen. Zehn Bahnen zu schwimmen ist leicht. Ob ich das noch bei der achten Runde sagen werde?
Am Ende der sechsten Runde kommt Niklas und die siebte mache ich entsprechend gemütlicher. Ich tauche nicht den Kopf ins Wasser, unterhalte mich, mache zwischendurch Pause. Ich weiß nicht, ob ich mich verzählt habe, jedenfalls kommt mir diese Runde kürzer vor als die anderen. Zur Sicherheit schwimme ich in Runde acht zwei Bahnen mehr, könnte ja sein, dass ich mich doch verzählt habe.
Nachdem Niklas wieder weg ist, denke ich darüber nach, dass Schwimmen eigentlich ein einsamer Sport ist. Man ist mit sich, seinen Gedanken, dem Wasser und dem Blubbern um sich herum alleine, selbst wenn noch jemand anderes mitschwimmt. Ich denke auch an meine wenigen Wettkämpfe, die ich in meinem Leben ausgetragen habe. Mal abgesehen davon, dass ich immer letzte war, hat mir das nie Spaß gemacht. Dabei bin ich immer für mein Leben gerne geschwommen und habe mit Leichtigkeit die Schwimmabzeichen erschwommen.
Im Augenblick genieße ich diese Art mit mir selber alleine zu sein. Und als ich die letzten 100 Meter schwimme, indem ich besonders lange auf dem Wasser gleite, wundere ich mich doch ein bisschen, dass ich noch locker weiter schwimmen könnte.
Aber eines weiß ich jetzt wieder, was ich am Schwimmen nicht mag: diesen verschwommenen Schleier über den Augen nach dem Schwimmen. Ich sollte mir vielleicht doch mal meine eigene Schwimmbrille besorgen.
Ein letztes Mal Meer. Diesmal mit einer leicht würzigen Note an Dunkelheit, nasser Kälte und Kalk. Wovon ich rede? Kommt gleich. Zuerst suchen wir uns im Internet eine passende Führung für 15 Uhr heraus und brettern über die verschlungene Autobahn Richtung Savona. Doch Verkehrsknoten können uns diesmal nicht schocken. Einen Horror haben wir eher vor der Parkplatzsuche, denn uns steckt noch die Erinnerung an letzten Samstag in den Knochen. Zu unserem allergrößten Erstaunen finden wir einen freien und sehr geräumigen Parkplatz direkt vor dem Eingang der Grotte. Und der liegt mitten im Ort wohlgemerkt. Wir können unser Glück kaum fassen. Aber leider leider leider ist es inzwischen 15:10 Uhr. Führung gerade verpasst. Die nächste startet erst in einer Stunde. Egal, Karten kann man ja trotzdem noch kaufen. Und schon trifft uns das Glück zum zweiten Mal. Wir dürfen noch hineinhuschen und erwischen (Glück Numero drei) eine auf deutsch übersetzte Führung.
Höhlen zu besichtigen gehört zu den angenehmsten Beschäftigungen während eines heißen Italienurlaubs. Jedenfalls so lange, bis man wieder in die Hitze hinaustritt und diesen einen letzten Schritt sofort bereut. Hitzeschock to go. Vielen Dank, Borgio Verezzi.
Aber dieser Ort hat noch viel mehr zu bieten als ein unterirdisches Höhlensystem voller wundersamer Formationen aus Kalkablagerungen.
Als nächstes wird nämlich das Meer getestet. Wenn man das nach dem dritten Mal überhaupt noch als “Test” bezeichnen kann. Wir können es jedenfalls. Zuvor haben wir natürlich noch schnell umgeparkt und – oh Wunder – einen kostenlosen Parkplatz direkt am Strand gefunden. Und unser Strand – man kann sich’s denken – ist natürlich kostenlos, relativ leer, mit feinem Sand bedeckt und gänzlich ohne Steine, die ein angenehmes Laufen auf Dauer unmöglich machen würden. Bei welcher Nummer sind wir noch gleich? Und wo hört eigentlich der Zufall auf? Fragen über Fragen…
Zu unserem Erstaunen gibt es heute so gut wie keine Wellen und wir schwimmen ein gutes Stück in die Unendlichkeit hinaus. Selbst hier ist es dank der Taucherbrille noch möglich, bis auf den Grund zu sehen. Na gut, erstaunt hat es uns eigentlich nicht mehr. Ich hätte fast schon drauf gewettet.
Nach dem Umziehen wird ganz unauffällig noch schnell die Parkuhr weitergedreht und auf der Suche nach einer Pizza flanieren wir durch die belebte Fußgängerzone und werden auch recht schnell fündig.
Jens hinterlegt seinen Namen auf unsere Bestellung und schon kurze Zeit später schallt ein “Jeans” über den Platz. Niki und ich können uns ein Grinsen kaum verkneifen. Die Pizza schmeckt sehr gut, vor allem der perfekte Boden verleitet uns zu einigen, wenn auch nicht immer ganz realistischen Spekulationen.
Eine weitere Anekdote des Tages ist definitiv die Kilometertankanzeige. Gestartet mit noch verbleibenden 190 Kilometern sahen wir bei 230 das Meer und parkten bei 250. Nein, das war nicht der Xte Teil der Glückssträhne, denn dafür schlürft uns der Motor auf der Rückfahrt unfassbare 200km aus dem Tank. Woran das wohl liegen mag…?
Copyright: Vanessa Heilmann Veröffentlicht mit ihrer freundlichen Zustimmung
Ich horche in mich hinein, ich horche hinaus in die Welt. Mein Körper bewegt sich durch die Raumzeit. Das Licht fließt durch meine Federn und krümmt sich auf den Linien des Universums. In fliege im Jetzt der Vergangenheit, schau in die Zeit der Sterne. Die Strahlen der Sonne sind schon acht Minuten alt und geben den Blick frei, auf das was war. Ich fliege über die Wiesen und obwohl das Geräusch der Grille und das Bild der Mücke aus der Vergangenheit mein Ohr und mein Auge erreichen, kann ich mich hinstürzen, die Distanz überwinden und die Vergangenheit zum Jetzt machen. Wenn ich im schnellen Flug Raum und Zeit überwunden, zermalmt mein Schnabel das Insekt.
In den Tagen vor unserem Urlaub lag ich nachts wach in meinem Bett und horchte auf die Umgebungsgeräusche, mit denen wir in Emmendingen so leben. Das Rattern der Züge auf dem entfernten Gleis, das gelegentliche Rauschen der wenigen in der Nacht vorbeifahrenden Autos, die Stimmen und Musik von Nachbarn oder spät heim kommenden Feiernden. Es ist nicht wirklich laut bei uns, aber auch nicht wirklich ruhig.
Und ich freute mich auf die nächtliche Ruhe in Italien und hoffte inständig, dass mich die Bilder bei der Wahl unseres Häuschens nicht getäuscht hatten. Sie hatten es nicht. Die einzigen Geräusche um uns herum in der Nacht stammen von den tausenden und abertausenden Grillen und Insekten dieser Gegend. Okay, am Morgen und Abend kommt das Kläffen einiger Hunde von den umliegenden Höfen hinzu, das frühe Krähen der Hähne, die Elstern, die sich manchmal am Morgen im Hof zanken. Aber das war genau die Art von Ruhe, die ich mir gewünscht habe.
Das geht natürlich damit einher, dass man auch mit den ganzen Insekten und Tieren leben muss, die in diesem ländlichen Raum zu Hause sind. Das ist nichts für empfindliche Gemüter. Aber zum Glück zählen wir nicht dazu. Wir bekommen regelmäßig Besuch von den Grillen, aber auch von großen Heuschrecken und Käfern.
Jens bittet uns am Abend: „Vorsichtig mit dem großen Spinnennetz über dem Weg. Die Spinne sieht so interessant aus, sie hat eine so seltsame Zeichnung auf dem braunen Rücken. Die möchte ich gerne morgen fotografieren.“ Dem Tier war es dann wohl an diesem Abend doch zu unruhig. Es war einer der Abende, an dem wir um Mitternacht im Pool gebadet haben und Jens die Milchstraße fotografiert hat. Irgendwann hat die Spinne ihr Netz wieder eingesammelt und woanders neu aufgebaut.
Dafür hat er aber schon interessante Fotos von einer Wespenspinne gemacht, die gerade eine Grille umwickelt. Von ihrem Giftstachel und den Fäden die in Massen aus ihrem Körper spritzen.
Wir haben im Pool einen toten Skorpion gefunden, ein schönes schwarzes Wesen. Vanessa meinte, dass sie auf ihren Spaziergängen schon einige beobachten konnte. Und natürlich gibt es auch diese lästigen Tierchen, die Mücken, die unsere Arme und Beine in einem Punktmuster tätowieren, die Bremsen, die uns beim Baden umschwirren und durch einen Klatscher mit der Hand ihr Leben lassen, und die Wespen, die mit uns unsere Wurst frühstücken.
Zu diesem schönen Übermaß an Natur gehören natürlich auch die vielen Blümchen und Gräser an den Wegrainen und auf den Wiesen, von denen ich sogar Dank meines von Papa weiter gegebenen Interesses einige Namen weiß.
So hatte ich es mir vorgestellt. Und wenn ich mal nachts, so wie jetzt, ein paar Minuten oder auch mal eine Stunde nicht schlafen kann, horche ich genüsslich auf das Zirpen und Rascheln der hiesigen Flora und Fauna.
Heute haben wir uns nach dem Frühstück das Cabrio geschnappt und sind einfach ins Blaue gefahren. Nach einem kleinen Umweg über seltsame Schilder wie Wärtsilä (Hallo Helsinki) sind wir in America gelandet.
America liegt direkt neben Bra. Nein, wir haben die Namen nicht geändert. Wirklich. Kein verstecktes hust hust. In America fanden wir nach unserem ersten freudigen “Hey, da gibt’s tatsächlich ne Pizzeria!” zu unserem Bedauern nur ein “Dieses Grundstück ist nicht zu betreten” vor. Jedenfalls irgendetwas in dem Tenor. Denn dass das Tor mit einem Schloss gesichert und die Pizzeria dementsprechend nicht geöffnet war, verstanden sogar wir mit unseren hüstel grandiosen Italienischkenntnissen. Auch sonst sah das Dorf, Verzeihung “das Dörfchen” nicht sehr belebt aus. Naja, was will man unter Trumps Regierung auch anderes erwarten… wir hatten Amerika in fünf Minuten durchquert. Also nahmen wir eben wieder mit Bra vorlieb. Ein schönes Städtchen mit einer noch schöneren Innenstadt und einem noch viel schöneren Supermarktparkplatz, auf dem wir nach einem kurzen Abstecher im anliegenden Gebäude (war ganz zufällig ein Supermarkt) unser Mittagsmahl verspeisten. Sogar unseren Park bekamen wir – laut Niklas definiert als ein einzelner Park(platz). Kein Platz, nur ein Stück Parkplatz, also ein Park. Klingt doch ganz logisch, oder? Für den Rückweg verließen wir uns nicht mehr auf unsere rechts-links-Spielchen, sondern ließen uns von Karin durch eine kurvige Strecke voller beeindruckender Ausblicke lotsen. Wie wir im Nachhinein herausfanden, besichtigten wir auf der Hinfahrt eine uralte rote Brücke, die bereits von den Römern hart umkämpft wurde, aber in den letzten Jahrzehnten leider durch “äußerst mysteriöse Umstände” ihre Funktion aufgeben musste. Stark anhaltende Regenfälle mit anschließenden Überschwemmungen, die ganze Brücken abreißen können, sind ja auch wirklich überaus selten anzutreffen und dementsprechend unerklärlich. Klimawandel lässt grüßen.
Copyright: Vanessa Heilmann Veröffentlicht mit ihrer freundlichen Zustimmung
Erst fühlt es sich für mich seltsam an, den ganzen Morgen liege ich am Pool, Mittags sitze ich auf der Bank im Schatten. Nur am Abend lasse ich mich zu einem gemeinsamen Spiel überreden. Den nächsten Morgen verbringe ich im Bett und später wieder im Hof. Über mir, auf meinem Bauch, neben mir auf dem Laken, vor mir auf dem Tisch: das Buch. Seite um Seite lese ich, blättere ich, weile ich in einer anderen Welt, schweife ich durch fremde Leben und mache sie zu meinem eigenen, in meinen Gedanken.
Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nichts anderes unternehme, weil ich keine Lust habe zu kochen oder baden zu gehen, aber dann frage ich mich, wieso ich diese Hemmungen habe. Schließlich bin ich im Urlaub und früher habe ich viel mehr gelesen. Langsam entspanne ich mich und gewöhne mich wieder daran, mir dieses Recht auf das Versinken in eine andere Welt zu nehmen.
Das Buch erzählt die Geschichte einer georgischen Familie. Sie erstreckt sich von 1900 bis heute und webt einen bunten Teppich aus den verschiedenen Gestalten dieser Familie. Ein bestimmendes Thema ist der Kommunismus mit seinen Gewalttaten, den Denunziationen, und den Menschen, die davon profitieren und sich selbst dadurch aber auch zerstören. Mir gefällt an dem Buch, wie die Motive der einzelnen Menschen herausgearbeitet werden, wie sie sich aus den Erlebnissen in ihrer Kindheit und Jugend herausentwickeln, wie die Ereignisse und Kriege des 20. Jahrhunderts eingeflochten werden und die Menschen in ihren Leben hin- und herwerfen. Natürlich gibt es einige sympathische Gestalten, mit denen man sich leicht identifizieren kann. Aber selbst bei ihnen bleiben die fratzenhaften, hässlichen Seiten nicht ganz außen vor.
Zwischendurch skizziert die Autorin die Weltgeschichte, in die dieser Roman eingebettet ist, und ich vergleiche die Daten mit der Geschichte meiner eigenen Familie, soweit ich etwas darüber weiß. Ich denke im Jahr 1956 an die Revolution in Ungarn, die hier nur erwähnt wird, aber über die ich viel gelesen und gehört habe. Und ich freue mich, dass eine Romanfigur nur einen Monat nach mir geboren ist. Ich denke darüber nach, welche unerzählten Ereignisse wohl in unserer Familie vergessen oder verschwiegen worden sind, wie ich in solchen Zeiten und Umständen handeln würde und wie glücklich ich mich schätzen kann, heute in Deutschland leben zu dürfen.
Zum Kochen habe ich jetzt das Buch doch aus der Hand gelegt. Meine Finger duften nach Knoblauch und mein Bauch ist voll mit Paprika, Zucchini und Nudeln. Und mein Buch wartet auf mich. Die Gestalten rufen nach mir und werden mich wohl noch ein oder zwei Stunden von meinem Schlaf abhalten, obwohl ich schon müde bin.
Wir sind dabei, bis zum bitteren Ende. Ich will wissen, wie schwer der Bulle ist. Ich habe ihn auf 731,5kg geschätzt, denke aber, dass die Schätzung zu hoch ist.
Am Morgen stehen die Zucht-Ergebnisse dieses Jahres auf der Weide unter dem Dorf und werden begutachtet. Piemonter Rinder, Bullen und Ochsen. Diesem Anlass ist das Fest gewidmet. Einige Marktstände sind aufgebaut, alte Traktoren fahren ins Dorf, eine alte Dreschmaschine wird präsentiert und vorgeführt. Man kann bei der Lotterie ein Schwein gewinnen und eben das Gewicht des einen „Bue“ schätzen.
Wir kaufen uns gleich Eintrittskarten für das Mittagessen um halb eins und trinken in dem hübschen Hof des Restaurants noch gemütlich einen caffè.
Pünktlich betreten wir das schon zur Hälfte gefüllte Festzelt, neugierig, was uns für ein Mahl erwartet. Alle Tische sind mit weißen Papiertischdecken und Geschirr festlich gedeckt. Überall liegen Brote und Grissini auf den Tischen. Es gibt Wein und Wasser, im Preis inbegriffen. Ein kleines Team bedient die etwa 350 Leute. Drei Vorspeisen, drei Hauptgänge, Käse und ein köstlicher Kuchen zum Nachtisch. Es ist, sagen wir mal… interessant, was wir vorgesetzt bekommen. Rohes Hackfleisch (carne crudo), Thunfisch auf gebratener Paprika, in säuerlicher Gelatine eingelegtes Rindfleisch, seltsam fettiges-knorpeliges Irgendwas, wohl auch vom Rind. Das gewöhnlichste sind die Ravioli, das kleine Stück Ziegenkäse und der Kuchen.
Nach drei einhalb Stunden sind wir vollgestopft, beschwipst und glücklich. Wir kaufen Lose für die Lotterie. Nachdem wir nichts gewonnen haben, gehen wir noch etwas über den Markt spazieren und genehmigen uns ein Eis. Wir treffen auch ein paar bekannte Gesichter, umarmen Adriana und Betti und machen die Bekanntschaft mit anderen Leuten aus der Gegend. „Piacere!“
Am Ende sind wir müde, die Füße tun weh und das einzige, was mich noch interessiert, ist das Gewicht des Ochsen. Dazu muss ich aber jemanden fragen, der das Gewicht weiß und genau diese Leute sind gerade mit ihrer Preisverleihung für die verschiedenen Zuchterfolge beschäftigt. Die Jugend verabschiedet sich schon nach Hause. Olav sagt, „Ich bleib mit dir noch da.“ Wir setzen uns auf ein Mäuerchen und lauschen der Preisverleihung. „Secondo premio!“ „Primo premio!“
Jetzt muss es doch bald vorbei sein, aber nein, der Tisch ist noch voll mit Pokalen. Und bestickte Decken werden auch noch verteilt. „Secondo premio!“ Hmm, das ist wohl eine andere Kategorie, die prämiert wird.
Nochmal eineinhalb Stunden später ist die Veranstaltung vorbei. Ich fragen den Cugine von Betti nach dem Gewicht: „Come pesante era il bue?“ Ich weiß nicht, ob das richtiges Italienisch ist, aber er versteht mich: 660kg. Da lag ich zumindest mit meiner Einschätzung richtig, dass ich zu hoch geschätzt habe.
In unseren Bemühungen, von den Dorfbewohnern adoptiert zu werden, sind wir einen Schritt weiter gekommen. Auf unserem Abendspaziergang Richtung Turm werden wir von unseren Nachbarinnen aufgehalten und in ein etwas mühseliges aber lustiges Gespräch verwickelt. Auf dem Rückweg sollen wir klingen und zu einem Kaffee vorbei kommen.
Diese Gelegenheit können wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Eine gute halbe Stunde später sitzen wir in Elizabetas Hof mit einer heißen Tasse Espresso in der Hand, gesüßt mit Zucker. Poco zucchero, wie Betti erstaunt feststellt. Italiener trinken den Kaffee süßer. Die 94 Jahre alte Adriana erzählt, dass sie in diesem Haus geboren wurde, dann aber lange Zeit in Turin gelebt hat, bevor sie wieder hierher zurück gekehrt ist. Sie ist eine lustige Frau und wir lachen viel bei unseren Bemühungen, etwas über uns auf Italienisch zu erzählen. Da ist es schon einfacher, Bilder von den Kindern zu zeigen, und bekommen natürlich auch gleich Bettis Enkel zu sehen.
Nur als ich Adriana nach ihrem marito (=Ehemann) frage, treten Tränen in ihre Augen. Ich streichel tröstend ihre Schulter, sie schluck, grinst wieder, zieht ihren Ehering aus und zeigt uns, wann sie geheiratet hat. Das war 1945. Unsere Ringe werden auch begutachtet.
Ein Cousin hält nach der Arbeit an, er fuhr gerade vorbei und sagt Buona serata! – gerade als wir gehen möchten. Due minuti sollen wir noch bleiben, denn das geht ja gar nicht, sich zu verabschieden, wenn der cugino auftaucht.
Am Ende werden wir noch mal darauf hingewiesen, das am Sonntag in San Giorgio die Fiera gefeiert wird. Wir müssen auf jeden Fall vorbei kommen. Es gebe gutes Essen und man könne einen Ochsen gewinnen. Das Gewicht ist zu schätzen, und derjenige, der am nächsten dran ist, gewinnt.
Wir haben schon gewitzelt was wir tun, wenn wir gewinnen. Wird nicht so leicht, ihn zu schlachten oder mit nach Hause zu nehmen.