Das achte Leben – Für Brilka

27.08.2019

Erst fühlt es sich für mich seltsam an, den ganzen Morgen liege ich am Pool, Mittags sitze ich auf der Bank im Schatten. Nur am Abend lasse ich mich zu einem gemeinsamen Spiel überreden. Den nächsten Morgen verbringe ich im Bett und später wieder im Hof. Über mir, auf meinem Bauch, neben mir auf dem Laken, vor mir auf dem Tisch: das Buch. Seite um Seite lese ich, blättere ich, weile ich in einer anderen Welt, schweife ich durch fremde Leben und mache sie zu meinem eigenen, in meinen Gedanken.

Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nichts anderes unternehme, weil ich keine Lust habe zu kochen oder baden zu gehen, aber dann frage ich mich, wieso ich diese Hemmungen habe. Schließlich bin ich im Urlaub und früher habe ich viel mehr gelesen. Langsam entspanne ich mich und gewöhne mich wieder daran, mir dieses Recht auf das Versinken in eine andere Welt zu nehmen.

Nino Haratischwili: Das achte Leben

Das Buch erzählt die Geschichte einer georgischen Familie. Sie erstreckt sich von 1900 bis heute und webt einen bunten Teppich aus den verschiedenen Gestalten dieser Familie. Ein bestimmendes Thema ist der Kommunismus mit seinen Gewalttaten, den Denunziationen, und den Menschen, die davon profitieren und sich selbst dadurch aber auch zerstören. Mir gefällt an dem Buch, wie die Motive der einzelnen Menschen herausgearbeitet werden, wie sie sich aus den Erlebnissen in ihrer Kindheit und Jugend herausentwickeln, wie die Ereignisse und Kriege des 20. Jahrhunderts eingeflochten werden und die Menschen in ihren Leben hin- und herwerfen. Natürlich gibt es einige sympathische Gestalten, mit denen man sich leicht identifizieren kann. Aber selbst bei ihnen bleiben die fratzenhaften, hässlichen Seiten nicht ganz außen vor.

Zwischendurch skizziert die Autorin die Weltgeschichte, in die dieser Roman eingebettet ist, und ich vergleiche die Daten mit der Geschichte meiner eigenen Familie, soweit ich etwas darüber weiß. Ich denke im Jahr 1956 an die Revolution in Ungarn, die hier nur erwähnt wird, aber über die ich viel gelesen und gehört habe. Und ich freue mich, dass eine Romanfigur nur einen Monat nach mir geboren ist. Ich denke darüber nach, welche unerzählten Ereignisse wohl in unserer Familie vergessen oder verschwiegen worden sind, wie ich in solchen Zeiten und Umständen handeln würde und wie glücklich ich mich schätzen kann, heute in Deutschland leben zu dürfen.

Zum Kochen habe ich jetzt das Buch doch aus der Hand gelegt. Meine Finger duften nach Knoblauch und mein Bauch ist voll mit Paprika, Zucchini und Nudeln. Und mein Buch wartet auf mich. Die Gestalten rufen nach mir und werden mich wohl noch ein oder zwei Stunden von meinem Schlaf abhalten, obwohl ich schon müde bin.

Autor: Barbara Seyfarth

Informatikerin Embedded Systeme (Automotive, Industrial Solutions) Safety + Security Certified Professional for Software Architecture (Advanced Level) Autorin