Vor etwas mehr als einem Jahr bin ich nach Budapest gezogen. Ich habe dort eine intensive Zeit erlebt, mit vielen neuen Eindrücken. Ich habe viele Leute, eine Stadt und ein Land lieb gewonnen. Aber die Welt dreht sich weiter. Und seit Mai bin ich wieder Deutschland. Ich brauchte zwei Monate, bis ich das Gefühl hatte wieder ganz da zu sein. Am 09. September 2018 und in den Tagen danach sind meine Gedanken ständig an der Donau gewesen. All diese Bilder sind noch so präsent. Viele Ereignisse kann ich einzelnen Tagen zuordnen.
Es war eine so schöne Zeit. Gleichzeitig tut es gut, zu Hause zu sein – Olav zu haben und meine Kinder in den Arm nehmen zu können. Aber eines steht fest: ich werde auf jeden Fall wieder dort hin fahren. Und ich beginne darüber nachzudenken, welches Abenteuer jetzt auf mich warten könnte.
Nun endet die erste Hälfte meines Aufenthalts. Das macht mich traurig. Man verstehe mich nicht falsch: ich freue mich schon auf die Tage mit meiner Familie und Freunden. Auf meinen Schreibtisch, meine Kollegen.
Gleichzeitig ist es ein Vorgeschmack auf das wirkliche Ende im April. Ich lasse jetzt schon so viel zurück, auch wenn es nur für ein paar Wochen ist. Liebgewonnene Freunde, Gewohnheiten, die für das Leben hier gut sind und Orte in einer Großstadt, in der das Leben brodelt. Ich verpasse drei Salsa-Stunden und mindestens zwei Parties.
Gestern Nacht bin ich nochmal am Ufer der Donau spazieren gegangen. Der kalte Wind wehte mir um die Ohren, aber der grandiose Blick von der Margit Híd bei Nacht in Richtung Süden lohnt sich einfach. Und ich musste doch wenigstens ein Mal über die Széchenyi Lánchíd laufen. Die Kälte biss in meinem Gesicht. Heute stieg ich noch mal den Gellért-Hegy, Besuch bei der Eiche, die nicht nur von mir geliebt wird. Der kleine Junge erklärte seiner Oma, was für ein schöner Baum das ist. Und ich habe seine Worte größtenteils verstanden, ohne mir darüber Gedanken zu machen.
Ich komme wieder Budapest. Und bestimmt werde ich auch nach dem tatsächlichen Ende meines Aufenthalts wieder kommen. Wenn ich ein bisschen Geld übrig hätte, würde ich mir hier eine Wohnung kaufen. Ich liebe diese Stadt, das Land und seine Leute.
In Budapest gibt es vier U-Bahnlinien. Die Reiseführer empfehlen, dass man zumindest mal mit der Metró vier ein paar U-Bahnhöfe besuchen sollte. Da ich direkt an der 4 (négyes) wohne, habe ich sie sowieso hin und wieder benutzt. Aber ich bin auch an einigen Bahnhöfen zum Gucken ausgestiegen und an die Oberfläche gegangen. Es ist interessant, wie die Menschen an den verschiedenen Orten leben.
Négyes Metró ist eine der modernsten U-Bahnen in Europa. Sie fährt automatisch, ohne Führer, man kann vorne hinaus in den Tunnel schauen. Die Bahnhöfe sind sehr schön gestaltet, ähnlich und doch jeder anders.
Und mit kleinen aber feinen Details. Auf jedem Bahnhof gibt es zwei Lichtlinien, die den Bereich markieren, in den man erst nach Halt des Zuges treten darf. Fährt der Zug ein, beginnen die Lichtlinien zu blinken und wenn der Zug hält, erlöschen sie. Um die Orientierung zu erleichtern, ist die Seite Richtung Westen zum Kelenföld vasútállomá immer blau, in Richtung Ostbahnhof immer gelb.
Es gibt schöne große Markierungen, die anzeigen, wo die Behindertenplätze in der U-Bahn sind.
Auch die anderen Metrós haben jeweils ihren persönlichen Flair, wenn auch nicht so modern. Eine Reise durch die Unterwelt lohnt sich alle mal. Und ein sporadisches Auftauchen in den verschiedenen Wohngegenden von Budapest auch.
Ein Apotheken-Museum, na das reizt eine Apothekerstochter. Neugierig öffne ich die Tür, die zu ebener Erde direkt in einen Ausstellungsraum führt. Gleich schießt eine Frau um die Ecke und erklärt mir, dass ich für die Ausstellung zu bezahlen habe. Die paar Forint berappe ich gerne, um meine Neugierde zu stillen. Ein gesprächiger älterer Herr drückt mir die deutsche Beschreibung in die Hand. Zu jeder Vitrine ist erklärt, was dort ausgestellt ist.
Akribisch begutachte ich die Exponate. Viele Standgefäße aus Majolika Keramik, ich kenne sie eher aus Glas und Porzellan. Die meisten ausgestellten Mörser sind aus Metall.
Es ist ganz nett. Das Alchimisten-Labor ist eindeutig das Highlight des Museums. Es ist in einem kleinen Nebenraum untergebracht. Man kann durch zwei Türen spickeln. Wenn man genauer hinsehen möchte, muss man sich ein bisschen um die Ecke über die Absperrung beugen. Zum Glück ist nur ein anderer Gast da, so habe ich Zeit, ungestört die Kolben, Feuerstellen, ausgestopften Krokodile, Zangen und sonstigen Gerätschaften anzuschauen.
Die Offizin ist eher enttäuschend. Sie kommt mir ein bisschen klein vor, wenn ich daran denke, wieviele Dinge es in so einer Apotheke gibt und sicher auch früher gab. Wie schon gesagt. Alles ganz nett. Ich würde so ein Museum anders einrichten. Aber ich bin ja auch in einer Apotheke groß geworden.
Die Standgefäße gehören in Regale, Schränke und Schubladen, sortiert nach Alphabet und mit deutlicher Schrift beschriftet. Zwischen den großen Ausziehschränken haben wir uns früher versteckt.
Wie funktioniert ein Mörser und was macht man damit? Das Museum hat zwar Bücher über Kräuter zur Schau gestellt, aber nicht, wie man Kräuter, Fette und Chemikalien verarbeitet, wie und wo man sie aufbewahrt. Mir fehlt ihr Geruch. Der ist in meinem Gedächtnis genauso fest eingebrannt wie die Bilder meiner Kindheit. Schon wenn man in den Hausflur kam, duftete es nach Apotheke. Zumindest meine Nase empfindet diese Gerüche als Duft.
Was ich nicht gefunden habe, war das Brett zum Pillen Rollen und die Gerätschaften zum Abfüllen von Kapseln. Dafür habe ich etwas wiedergefunden, was auch bei uns im Keller stand. Die Erinnerung daran schlief in den tiefsten Tiefen meines Gehirns: eine Presse zur Gewinnung von Pflanzensäften – von früher – als der Beruf des Apothekers noch mehr war nur als Medikamente zu verkaufen.
Besonders am Freitag Abend, wenn die arbeitsreiche Woche rum ist und das lange, oft noch unverplante Wochenende bevorsteht, kommt der Tiefpunkt meiner Woche. Ich sitze hier und frage mich, was ich in dieser Stadt fern von allem Vertrauten mache. Wozu springt man aus seinem Leben raus und setzt sich Einsamkeit und Ungemach aus.
Aber eigentlich ist die Antwort einfach. Manchmal braucht man einfach eine neue Perspektive auf das Leben. Ich hatte zu Hause viel das Gefühl, von meinen Verpflichtungen und Gewohnheiten aufgefressen zu werden. Ich wusste nicht, wie ich das ändern sollte, wie ich meine Gedanken und Gewohnheiten in neue Bahnen lenken sollte. Und tatsächlich – hier ist es anders. Ich kann mir neue Gewohnheiten ausdenken. Ich fühle mich niemandem verpflichtet, es fühlt sich aber auch niemand mir verpflichtet.
An Freitag Abenden vermisse ich die Aussicht darauf, wenigstens ein bisschen Zeit mit meiner Familie teilen zu können.
Aber insgesamt ist es gut. Ich kann machen was ich will und wann ich will. Meine einzige Verpflichtungen sind die Arbeit und die Tür hinter mir abzuschließen, wenn ich die Wohnung verlasse. Ich kann gehen, wohin ich will und wann ich will, ich kann an meinem Blog schreiben oder ihn drei Wochen lang brach liegen lassen. Ich kann Freunde anrufen und fragen, ob sie was mit mir unternehmen wollen oder ins Allee gehen, dort den ganzen Tag auf einem der Sessel sitzen und ungarisch lernen.
Das ist Genuss pur. Und darum steht mein letzter Monat dieser ersten Hälfte unter dem Motto: Ich mach wonach mir der Sinn steht… die Freiheit nehme ich mir.
An einem der Samstage bin ich in einem Museum gelandet, dessen Ausstellung nun ja – sagen wir „interessant“ war. Insbesondere die Schuhe-Abteilung war sehr lustig. Schuhe über Schuhe über Schuhe. Aus allen möglichen Epochen und Regionen der Welt. Die Systematik ist mir nicht ganz klar geworden. Es waren viele ausgelatschte Schuhe dabei.
Bequeme, unbequeme Schuhe. Schuhe, bei denen man sich noch nicht mal im Traum vorstellen kann, wie man damit läuft. Schuhe für Bäder, Latschen für Häuser, zum Fischen, zum Laufen. Grobe Schuhe und feine Schuhe. Hohe Stiefel, die bis über die Oberschenkel gehen. Aus Fell, Holz, Gras, Leder, Plastik.
Besonders amüsant ist es, wenn man nach so einer Ausstellung durch die Straßen läuft und was findet? Natürlich Schuhe. Denn sein Paar Schuhe zu verlieren scheint in Budapest auch nicht unüblich zu sein. Vielleicht kommen ja da die Schuhe in der Ausstellung her. Oder habe ich nach den erhellenden Lehren des Museum vielleicht einfach nur einen neuen Blick auf meine Umwelt erlernt?
Ich vermisse das. Mit dir zusammen zu sein. Einfach nur so. Du bist da – ich bin hier. Einfach nur so. Ich höre dein Räuspern. Du rückst deinen Stuhl. Er knarzt. Einfach nur so. Ich blättere die Seite um. In meinem Buch. Sie raschelt. Einfach nur so. Ich bin für mich. Du bist für dich. Einfach nur so. Denn wenn doch mal was ist. Ein Wort. Ein Satz. Eine Tasse Tee. Dann bin ich gleich da. Einfach nur so.
Um mich herum Ist nur Stille. Und das Rauschen der Stadt. Einfach nur so.
Gestern hatte ich Gäste zu Hause. Es war mir ein Bedürfnis, mich bei einigen Freunden für das herzliche Willkommen und die Unterstützung in der einen oder anderen Weise zu bedanken. Denn es ist schon etwas Besonderes, wenn ein Kollege, mit dem ich in den Projekten gar nichts zu tun habe, mich einfach herumführt, mit zum Essen nimmt und auch sonst immer für einen da ist. Oder eine andere Kollegin sich einfach nur darüber freut, dass sich der Frauenanteil erhöht, immer ein offenes Ohr hat und einen mit zum Kaffeetrinken nimmt. Aber auch die Bekanntschaft, die mir unvoreingenommen angeboten hat: „Wenn du dich einsam fühlst, dann melde dich bei mir!“
Ich hätte gerne noch viel mehr Leute eingeladen, aber wie soll ich in einer so kleinen Küche für so viele Menschen kochen. Und ich habe nur 6 Suppenteller, bei neun geplanten Teilnehmern und frischer Suppe zum Abendbrot schon eine Herausforderung. Es war auch nicht einfach zu kochen. Die Küche ist sehr klein und ich musste noch ein paar Sachen kaufen, zum Beispiel ein Rührgerät für das Mousse au Chocolat. Und man findet zwar ein ganzes Kühlregal voller saurer Sahne in allen Packungsgrößen und Formen, aber die süße Sahne gibt es nur in einer kleinen Ecke und auch nur in kleinen Plastikbeuteln. Ich stand schon fünf mal vor diesem Kühlregal und habe sie erst gefunden, als ich einen Mitarbeiter danach gefragt habe.
Am Ende waren wir dann doch nur zu sechst. Gekocht hatte ich mindestens für 16. An diesem Wochenende brauche ich mich nicht mehr in die Küche zu stellen. Nur der Nachtisch hätte nicht für viel mehr Leute gereicht.
Als ich vor einigen Tagen in Richtung Arbeit aufgebrochen bin, habe ich meine Wohnung zur gleichen Zeit verlassen wie eine Nachbarin. Ich bin nun nicht mehr so zimperlich, bin auf die Frau zugegangen und habe mich vorgestellt. Was ein bisschen für Irritation gesorgt hat. Vor allem wissen die Nachbarn erst mal nicht, was man von ihnen will. Dann bin ich durch die Straßen gelaufen und habe die vielen verschiedenen Menschen gesehen, aus den vielen verschiedenen Ländern dieser Welt. Und mir ist bewusst geworden: In jedem anderen Land dieser Welt bin ich Ausländer, nur nicht in meinem eigenen.
Vielleicht sollte man die Menschen, die gegen Ausländer Vorbehalte haben, mal für ein paar Monate in ein Land schicken, dessen Sprache sie nicht sprechen und dessen Kultur sich von ihrer Kultur unterscheidet. Diese Erfahrung zu machen ist nicht nur interessant sondern auch erhellend. Zumindest wenn man mit offenen Augen und Ohren die Zeit erlebt. Besonders in den Situationen, wo man sich schnell entschuldigen möchte oder auch nur guten Tag sagen möchte. Wie heißt noch mal Entschuldigung? Und wie begrüße ich und verabschiede ich mich jetzt auf die richtige Weise von meinen Kollegen? Was muss ich gerade zu meiner Nachbarin sagen? Jó reggelt oder Jó napot? Selbst nach einem Monat läuft sowas noch nicht wirklich automatisch.
Es ist auch spannend, sich unter die Massen zu mischen, so zu tun, als gehöre man hier her und zu beobachten, wie sich Deutsche, Engländer und andere Nationalitäten in Budapest verhalten, wenn sie nur kurz zu Gast sind. Und ich genieße es total, viel mit Ungarn zu tun zu haben, ihre Eigenheiten besser kennen zu lernen und mich auf ihre Art zu leben einzulassen – so weit das möglich ist.
Budapest ist eine Stadt der Gegensätze. Man dreht sich einmal im Kreis und findet Weite und Enge, Alt und Neu, Antik und Modern, Reich und Arm, Gepflegt und Vernachlässigt, Klein neben Groß, Sauber neben Dreckig.
Man wechselt die Straßenseite und läuft nicht mehr über einen glatt geteerten Bürgersteig sondern auf holprigen Pflastersteinen.
Natürlich nicht überall. Es gibt gepflegte Gegenden, besonders dort, wo viele Touristen hingehen. Aber selbst dort bleibt man nicht von diesen Eindrücken verschont. In den Straßen sind die kleinen individuellen Geschäfte und dann gibt es die großen, modernen Einkaufszentren wie das Allee.
Die Bebauung ist auf der einen Seite dicht und auf der anderen Seite findet man mitten in der Stadt Platz für einen großen Hof mit flachen Gebäuden.
Wenn man sich abends unter den Blaha Lujza Tér und drumherum bewegt, kann man beobachten, wie sich Massen an Obdachlosen trockene Plätze für die Nacht sichern. Wenige Schritte weiter kommt man in ein Kneipenviertel, in dem es von Touristen und Einheimischen nur so wimmelt, die sich in der Nacht vergnügen und noch etwas weiter kommt man zum Erzsébet Tér auf dem ein Riesenrad steht, mit dem man nachts um 10 Uhr für 10 Euro noch über Budapest blicken kann. Das habe ich mir aber in der Nacht, in der ich dort war, gespart und bin weitergelaufen durch das pompöse Regierungsviertel bis zur Margit sziget um im Mondschein zu schaukeln.