November 2006
Vor etwa zwei Monaten hielt Lucy Arisson den verflixten Brief in der Hand: „Sie haben die Traumreise gewonnen!“ Ihre Teetasse klirrte leise, als sie sie auf das Tischchen am Fenster stellte.
„Sally?“ Die Stimme vibrierte. „Hast du die Lösung des Kreuzworträtsels für mich eingeschickt?“ Sally blickte mit aufgerissenen Augen aus ihrem Buch auf. „Du hast gewonnen?“ Mit einem Jauchzer riss sie ihrer Tante den Brief aus der Hand.
„Lernen Sie die Kultur in der Südsee kennen… Höhepunkt ist der Besuch eines Dorfes, in dem Eingeborene in ihrer ursprünglichen Umgebung leben… Nimmst du mich mit?“ Lucy kochte. „Wie kommst du darauf, dass ich verreisen möchte? Und jetzt dies hier! Ich werde absagen.“ „Aber Tantchen!“ Sally setzte ihren Hundeblick auf. „Es wird dir gut tun! Du warst schon Jahre nicht mehr fort!“ Schließlich willigte Lucy ein und seit drei Wochen waren sie nun auf Schiffsreise.
Am Mittag ankerte das Schiff in der Bucht einer Insel. Mit Beibooten wurde die Reisegesellschaft an Land gebracht. „Ich hab‘ dir doch gesagt, du sollst deine flachen Schuhe anziehen, Tantchen“, schimpfte Sally. „Kindchen, die passen nicht zu meinem Kostüm.“ Aber Lucy gab ihrer Nichte im Stillen Recht. Mit den hohen Hacken versank sie im Sand und kam nur mühsam den steilen Hang hinauf. Ihr Sonnenschirmchen wippte hin und her, wenn sie um ihr Gleichgewicht rang. Auf halber Höhe hielt Lucy keuchend inne. Die Hitze machte ihr zu schaffen. „Mir geht es nicht gut. Mein Kopf schmerzt. Ich gehe lieber wieder hinunter und lass mich zum Schiff zurückfahren. Eine Mittagpause ist besser als dieser Ausflug zu den Wilden.“ Enttäuscht tätschelte Sally Lucys Arm. „Kleines, geh du nur da hin. Ich komme schon allein zurecht.“ Erleichtert sprang die junge Frau den Hügel hinauf. Lucy sah ihr ein wenig eifersüchtig hinterher. ‚Ich sollte endlich was gegen mein Übergewicht unternehmen.‘
Dann machte sie sich an den Abstieg. Am Strand angekommen, musste sie feststellen, dass fast alle Beiboote zum Schiff zurückgekehrt waren. Der Matrose des verbliebenen Bootes war mit ins Dorf gegangen. Frustriert suchte Lucy einen schattigen Platz hinter einem Felsen. Sie knetete ihre geschwollenen Beine. Dann lehnte sie sich zurück und nickte ein…
„Misa Rison! Unbu-khu“ Lucy war sofort hellwach. ‚Was um Himmels willen macht ein fremder Mann in meiner Kabine?‘ Geblendet blinzelte sie in die untergehende Sonne. ‚Meer? Sonne? Sand?‘ Verwirrt rieb sie ihre Augen. ‚Wo bin ich?‘ Erschrocken rappelte sie sich auf, stolperte über den Einheimischen, der vor ihr auf dem Boden kniete, und blickte aufs Meer. „Aber… wo ist das Schiff?“ Tränen schossen ihr in die Augen.
„Misa Rison? Sprechen Englisch?“ Vorsichtig hob der Fremde seinen Kopf. „Natürlich spreche ich Englisch“, fauchte Lucy. „Ich bin Engländerin. Wo ist das Schiff?“ Schnell duckte der Mann sich wieder. „Schiff abfahren. Zur halben Sonne vor Nacht.“ „Wieso haben sie mich hier zurückgelassen?“ Verzweifelt stierte sie auf den nackten Rücken des Mannes. Dunkelbraune Haut, schwarze, lockige Haare. ‚Ich bin allein – auf dieser Insel – allein mit Wilden!‘ Zitternd klappte sie ihr Handtäschchen auf und nahm das Taschentuch. Mit sanftem Druck tupfte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. ‚Wieso habe ich nur auf Sally gehört? Was soll ich jetzt tun?‘
Der Eingeborene kniete immer noch vor ihr. „Stehen Sie doch auf“, bat sie. Als er sich nicht rührte, beugte sie sich ächzend hinunter. „Wie heißen Sie?“ „Titon.“ Endlich bewegte er sich. Seufzend richtete Lucy sich auf und rieb ihren schmerzenden Rücken. ‚Jetzt könnte ich zur Entspannung ein Tässchen Darjeeling gebrauchen‘, dachte sie mit einem Blick auf das endlose Meer. „Ich brauche Ihre Hilfe. Sie müssen die Schifffahrtsgesellschaft benachrichtigen.“ Eindringlich redete Lucy auf den schwarzen Lockenkopf ein. „Helfen. Helfen“, sagte sie schließlich.
Titon nickte. „Kommen. Misa Rison.“ „Ich heiße ‚Miss Arisson‘ nicht ‚Miss A – Rison‘. Woher wissen sie überhaupt meinen Namen?“ „Kommen“, antwortet der Eingeborene nur und lief die Anhöhe hinauf. Als Lucy endlich oben bei den Hütten angekommen war, klebte ihr Hemd schweißnass an der Haut. Der Mund war ausgedörrt, sie hatte seit dem Mittag nichts mehr zu sich genommen. ‚Hoffentlich haben die Eingeborenen so etwas wie Tee.‘ Sie blickte um sich. Nur das Zirpen und Schnarren der Tiere drang an ihr Ohr. Hier waren keine Menschen!
„Wo sind sie?“ „In echte Dorf. Dies nur für Gäste, nicht echte Dorf.“ „Aber…“ „Kommen. Weiter weg. Nacht kommen. Eilen.“ Schon huschte er weiter. Sein dunkler Körper verschwand zwischen den Schatten der Bäume, die in der Senke einen dichten Wald bildeten. Die Sonne färbte die Wipfel der Bäume auf dem gegenüberliegenden Gipfel rot. Im Tal dämmerte es schon. „Warten Sie, ich kann nicht so schnell!“ Mit kurzen, trippelnden Schritten lief sie über den festgestampften Boden durch die kleine Ansiedlung. ‚Wo ist er in den Wald hineingegangen?‘ Unsicher blieb Lucy untern den ersten Bäumen stehen. „Mister!“, rief sie. Sie hörte ein Knacken. „Kommen!“, tönte es und sie folgte dem Klang der Stimme. Der Waldboden war uneben. Wurzeln und Schlingpflanzen machten den Pfad unwegsam. Im Zwielicht der Bäume konnte Lucy schlecht sehen. Sie blieb hängen, ein Absatz ihres Schuhs brach ab. „Autsch“, schimpfte sie. „Eine Safari hat mir gerade noch gefehlt.“
Ihr Führer wartete ungeduldig auf sie. „Kommen!“ „Ich kann nicht.“ Lucy wies auf ihre Füße. „Schuhe weg! Kommen!“ Sie schüttelte den Kopf. Humpelnd folgte sie Titon ins Dickicht. Ihr Rock blieb an Dornen hängen, die Haare wurden von herabhängenden Zweigen zerzaust. Sie stolperte durch den Dschungel, bis sich die Dunkelheit über das Land gelegt hatte.
Endlich glitzerten Lichter durch die Bäume. Erleichtert blieb Lucy am Rand des Dorfes stehen. Sie strich ihren Rock glatt und ordnete mit einem Kämmchen das Haar. Ihr Begleiter lief rufend zwischen den Hütten umher: „Misa Rison. Unbu-kha! Do-khi.“ Sofort kamen die Bewohner heraus und näherten sich ihr langsam und leise flüsternd. Als Lucy in den Schein eines Feuers trat, ging ein Raunen durch die Menge. Plötzlich knieten alle auf dem Boden und verharrten in einer tiefen Verbeugung. Nur eine Frau, mit Blumengirlanden geschmückt, empfing sie lächelnd.
Titon übersetzte: „Tikoa begrüßen Euch. Danken, dass Ruf der Geister gefolgt sein.“ „Ruf der Geister?“ Lucy verstand nicht, was der Mann meinte. Tikoa stand mit geöffneten Armen da. Sie schien auf eine Antwort zu warten. „Sag ihr: Ich freue mich, dass ihr mir helfen wollt. Danke für das herzliche Willkommen.“ „Helfen. Helfen“, bestätigte Tikoa und umarmte Lucy. Jemand reichte ihr eine Schale mit einer Flüssigkeit, die nach Kokosnuss roch. Lucy trank, doch der brennende Durst schien davon kaum gelöscht zu werden.
„Ich hätte gerne einen Tee oder etwas Wasser“, bat sie Titon. Er schaute sie erfreut an und wechselte ein paar Worte mit Tikoa. Diese verbeugte sich vor ihr und forderte sie mit einer Geste auf, ihr zu folgen. Lucys Verzweiflung und Unwohlsein war wie weggeblasen. ‚Das Getränk war wohl vergoren‘, dachte sie. Leichter Schwindel und innere Leichtigkeit erfüllten sie. Neugierig ließ sie sich zu einer der Hütten im Dorf führen und trat ein.
Gestank und eine raue Stimme schlugen ihr entgegen: „Misa Rison! Unbu-khu!“ Beinahe wäre Lucy rückwärts wieder hinausgefallen. Eine junge Frau und ihr Kind lagen auf Strohmatten, die Hütte war mit Exkrementen und Auswurf verunreinigt. Glasige Augen leuchteten im Wiederschein des Feuers, der hoffnungsvolle Blick auf sie gerichtet. Lucy musste ein Würgen unterdrücken, als Tikoa mit einem Gefäß mit kalten Wasser hinter ihr eintrat. „Misa Rison! Ibi Wa-sa. Helfen.“ ‚Was wollen diese Wilden von mir? Ich bin doch keine Ärztin.‘ Lucy hielt es nicht mehr aus. Sie drängelte sich an Tikoa vorbei und stürmte aus der Hütte. Draußen schnaubte sie die stinkende Luft aus ihren Lungen. Ihr Herz raste. Das Kokosgetränk umnebelte ihre Sinne. Aufgewühlt trippelte sie durch das Dorf.
‚Wo ist dieser Übersetzer?‘ In der Mitte der Siedlung brannte ein großes Feuer. ‚Vielleicht finde ich ihn dort.‘ Die Hütten glühten rot im flackernden Licht. Der Platz war leer. ‚Wer ist da hinter dem Feuer?‘ Lucy glaubte eine Gestalt zu erkennen, unbewegt zwischen zwei Hütten. Sie überquerte den Platz und erstarrte. Dort saß geschmückt mit Blumen und bunten Bändern ihr eigenes Ebenbild aus Stein. Lucy rieb sich die Augen, aber sie hatte sich nicht getäuscht. Zögernd näherte sie sich dem Relief und betastete das kühle Gesicht. Sogar einen engen Rock hatte diese Figur an. Das Bild konnte unmöglich in der letzten halben Stunde entstanden sein.
‚Helfen! Helfen!‘, schoss es ihr durch den Kopf. ‚Diese Leute wollen gar nicht mir helfen. Sie denken, dass ich ihnen helfen will.‘ Die Erkenntnis durchzuckte sie wie einen Blitz. ‚Dieser ehrenvolle Empfang, die Ehrfurcht der Menschen. Alles galt diesem Götzenbild aus Stein – Misa Rison.‘ Erschöpft sank sie vor dem Relief nieder. Sie konnte nicht mehr. Das war zu viel für sie. Schluchzend jammerte sie: „Wieso musste mir das passieren? Warum bin ich nur auf diese verdammte Seereise gegangen?“
Sie war müde. Müde und durstig. Und niemand verstand, was sie jetzt brauchte. Ein weiches Bett und eine Kanne voll heißen dampfenden Tee. Krampfhaft versuchte sie die Tränen zu unterdrücken, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. ‚Wie spät es wohl ist. Ob Sally mittlerweile gemerkt hat, dass ich nicht an Bord des Schiffes bin? Sie werden doch sicher nach mir suchen?‘ So in Gedanken versunken, sich selbst bemitleidend, strich sie mit ihrer Hand über die Blätter eines Kräutleins, das zu Füßen der Statue wuchs. Ein melissenartiger Duft stieg ihr in die Nase und weckte die Lebensgeister. ‚Wenn es schon kein Darjeeling oder Assam ist, dann wenigsten ein bisschen Kräutertee.‘
Sie pflückte ein Büschel und rappelte sich auf. Ihre Schuhe drückten und das Humpeln bereitete ihr Schmerzen. Frustriert zog sie sie aus und setzte barfuß ihre Suche fort. „Ich brauche heißes Wasser“, versuchte sie Titon zu erklären. „Kochendes Wasser.“ Er grinste verlegen und hielt ihr ein Gefäß hin. „Wa-sa. Hier!“ „Es muss heiß sein!“ Lucy raufte sich die Haare. Hatte er noch nie was von kochendem Wasser gehört? „Feuer. Wasser auf Feuer.“ Der Mann schüttelte den Kopf und goss das Wasser auf das Feuer. Es zischte und qualmte. „Nein!“
‚Wie machen Eingeborene heißes Wasser?‘ Lucy begutachtete das Gefäß. Das konnte sie nicht übers Feuer stellen, es würde einfach verbrennen. Dann fiel ihr ein Roman ein, in dem beschrieben wurde, wie die Menschen in der Steinzeit Wasser erhitzt haben. So kann ich es ja mal probieren. Suchend blickte sie sich um. Dann drückte sie dem erstaunten Eingeborenen faustgroße Steine in die Arme. „Kommen“, befahl sie. Sie ließ die Steine vorsichtig in die Glut fallen und verlangte nach einer neuen Schüssel mit Wasser. ‚Jetzt muss ich sie nur irgendwie wieder rausbekommen. Es ist zum Verzweifeln!‘
Schließlich fand sie eine Kelle aus Holz. Damit hob sie die heißen Steine aus dem Feuer und ließ sie in die Schale gleiten. Es zischte und dampfte und nachdem sie genug Steine hineingelegt hatte, fing das Wasser tatsächlich an zu kochen. Erleichtert legte sie die Kräuter hinein. ‚Die Asche ist mir jetzt egal‘, dachte sie und schöpfte sich nach ein paar Minuten eine Schale Tee. ‚Hmm, dieses Kraut ist noch aromatischer als unsere Zitronenmelisse.‘ Genüsslich nippte sie an ihrem Getränk und träumte vom weichen Lehnsessel und den gemütlichen Nachmittagen daheim, wenn draußen der Hochnebel die Welt in ein trübes Licht taucht und die Kerzenflamme behaglich knistert.
„Misa Rison? Helfen?“ Tikoa war wieder erschienen und begutachtete neugierig die dampfende Flüssigkeit. Sie schnupperte daran und tauchte vorsichtig ihren Finger hinein. Mit einem leisen Schrei zog sie ihn wieder hinaus. Nach einem weiteren Tee sagte Lucy schließlich: „Miss Arisson jetzt helfen.“ Sie fühlte sich erfrischt und tatkräftig. Ein bisschen konnte sie für die Kranken hier tun. Mit dem Rest mussten sie dann wohl selber fertig werden. „Titon! Du kochst Wasser. Viel Wasser. Tikoa: Wir brauchen sauber Hütten für die Kranken. Verstehst du Titon, was ich sage? Und Tücher. Als erstes werden wir sie mit dem gekochten Wasser waschen.“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, holte sie ihr Tüchlein aus dem Täschchen und deutete an, dass sie große Tücher brauchte. Die Eingeborenen brachten immer mehr Kranke aus den Hütten. Lucy zeigte ihnen, dass sie sie reinigen sollten und flößte allen ihren Tee ein. ‚Das kann nicht schaden‘, dachte sie. ‚Zumindest hat er belebende Wirkung.‘ Bis spät in die Nacht hinein arbeiteten sie. Als der östliche Horizont sich rosa verfärbte, sank Lucy erschöpft nieder. Sie bettete ihren Kopf auf dem Stein vor ihrem Bildnis und schlief augenblicklich ein.
„Endlich wachst du auf, Tante Lucy.“ „Sally? Ihr seid zurückgekommen!“ „Aber natürlich. Wir gingen schon am frühen Abend in der Bucht vor Anker. Aber du warst unauffindbar. Weder am Strand noch bei den verlassenen Hütten konnten wir dich finden. Zum Glück nahm Doktor Edmond an der Suche Teil.“ „Doktor Edmond? Ist er hier? So viele Dorfbewohner sind krank, vielleicht kann er helfen.“ „Tantchen, er schaut schon nach ihnen. Doktor Edmond kennt das Dorf. Er meinte gestern, es sei zu gefährlich, im Dunkeln durch den Dschungel zu laufen, sonst wären wir schon abends hier gewesen.“
„Ah, Sie sind wach, Miss Arisson“, tönte eine tiefe, rollende Stimme. „Doktor Edmond, schön sie zu sehen!“ Lucy war erleichtert, dass sie nicht mehr allein unter den Eingeborenen weilen musste. Der Doktor zwinkerte lustig mit den Augen. „Heute Morgen kam uns Titon entgegen. Er hatte das Schiff in der Bucht gesehen. ‚Misa Rison. Unbu-kha!‘, schrie er freudestrahlend.“ Er gluckste in sich hinein. „Ich fragte: ‚Die Göttin Rison ist erschienen?‘ und gleichzeitig fragte ihre Nichte: ‚Sie haben Miss Arisson gefunden?'“
„Misa heißt Göttin?“ „Wahrhaftig. Und für diese einfachen Menschen sind Sie eine Göttin. Sie haben alles getan, was man bei dieser Krankheit tun kann. Und sie haben ihnen die Kunst des kochenden Wassers gebracht. Das Kraut scheint zudem eine fiebersenkende Wirkung zu haben.“ „Ich dachte, es sei Zitronenmelisse“, antwortete Lucy verlegen. „Wir können nicht mehr für sie tun. Gesund werden müssen sie alleine.“ „Doch, eine Sache noch“, bat Lucy. „Bitte beauftragen Sie den Koch des Schiffes, dass er einige Töpfe hinüberschickt – damit das Teekochen für die Eingeborenen nicht so kompliziert ist. Ich werde gerne für die Unkosten aufkommen.“