Verwandte Seelen

Januar 2007

Dorothee liebte das Gefühl in ihren Fingerspitzen, wenn sie mit ihrem Putztuch über den polierten Granit glitt. Es war wie eine Liebkosung. Sie rückte die drei Kerzenhalter auf der Fensterbank in eine exakte Gerade. Dabei fiel ihr Blick auf die Schneeflöckchen, die an der Glasscheibe hinunterrutschten und wässrige Eisklumpen bildeten. „Was für ein Wetter“, seufzte sie. Morgen würde sie das Fenster putzen müssen. Ihr Wecker piepste. Höchste Zeit zu gehen. War auch wirklich alles in Ordnung? Während sie den Mantel überstreifte, begutachtete sie ihr Werk. Eilig lief sie zum Fenster und korrigierte die Position einer der Kerzen, dann verließ sie ihre Wohnung.

Endlich kam der Bus. Die Tür schwang auf und ein Mann in langem Trenchcoat drängte sich heraus. Er roch staubig. Dorothees Nase kräuselte sich. Sie trat einen Schritt zur Seite, bis die Gestalt vorbei war. „Komischer Kerl“, nuschelte der Busfahrer ihr zu und wies mit einem Kopfnicken nach draußen. Dorothees Augen folgten der Geste. Der Fremde hob gerade etwas vom Boden auf. „Schnüffelt an den Haltestellen rum, als hätte er etwas verloren.“

„Vielleicht räumt er auf?“, vermutete Dorothee, nachdem sich der Mann ein zweites Mal bückte. Etwas Blütenweißes leuchtete in seiner Hand. „Mein Taschentuch … ich muss raus!“ Aber der Bus fuhr schon und der Fahrer weigerte sich, anzuhalten. „Den sehen Sie bestimmt wieder. Der fährt mit der ‚3‘ immer im Kreis. Von einer Haltestelle zur nächsten.“

Die Besorgungen dauerten länger als geplant. Mittlerweile quollen die Menschen aus Bürohäusern und Fabriken und verstopften die Stadt. Der Bus schaukelte. Dorothee klammerte sich an die Haltestange. An der Ampel stolperte sie gegen den Rücken mit den Schweißflecken. Heimliche Blähungen verpesteten die Luft. Dorothees Kehle schnürte sich zusammen. Verstohlen schielte sie an sich herunter, überprüfte, ob ein dreckiger Schulranzen weit genug entfernt war. Endlich verließen sie die Randbezirke der Stadt. Ein leises „Plink“ ertönte, und das Haltelämpchen leuchtete auf.

Mitten auf dem Land? Stimmt, dieser Bus fuhr die Schleife über Zährental.

Neugierig streckte Dorothee ihren Kopf hoch. Wer wohl in dieser Einöde wohnt? Da sah sie den Trenchcoat an der Vordertür.

‚Mein Taschentuch!‘, schoss es ihr durch den Kopf. Die Tür zischte beim Öffnen und der Fremde stieg auf die Straße. „Halt! Ich möchte auch raus!“, rief Dorothee. Sie schob den Schweißsee zur Seite, drängelte sich durch die Leiber, stieß mit ihrem Oberschenkel gegen einen Laptop und kletterte hinaus. Schnaufend klopfte sie ihren Mantel glatt. Trenchcoat wühlte im Papierkorb. „Entschuldigung.“ Der Fremde zog aus einer zerfetzten McDonald-Tüte ein Päckchen Ketchup. Dorothee räusperte sich. „Sie haben heute am Fliederweg ein Taschentuch gefunden.“

Der Mann unterbrach seine Suche. Seine schwarzen Haare pendelten im Wind, während er für einen unermesslichen Augenblick innehielt. Dorothee wurde sich der Abwegigkeit ihrer Situation bewusst. Hier stand sie – allein mit einem Penner mitten im Nirgendwo. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, teilnahmslos, gleichgültig, welches Schicksal ihr widerfuhr. Kriechend wendete sich seine Gestalt, träge drehte er den Kopf und endlich hob er die Lider. Mit einem Mal sah sich Dorothee im Brennpunkt seiner Aufmerksamkeit. Ein heißer Schauer fuhr über ihren Rücken, als seine klaren Augen sie musterten.

„Frau D.“, sagte er. Seine Stimme klang emotionslos. Dorothee schaute gebannt auf die Erscheinung, gleichzeitig befremdet und angezogen. Sie musste Schlucken, bevor sie antworten konnte: „Dorothee – Dürfte ich es wieder haben?“ Der Fremde schüttelte den Kopf: „Ich habe es nicht mehr bei mir.“ Entgeistert schaute sie zu, wie er nach seiner Sporttasche griff und auf einem Seitenweg in Richtung Wald stapfte.

Mutlos wischte Dorothee eine Träne weg. ‚Ich fahre besser nach Hause‘, dachte sie und studierte den Fahrplan. ‚Es ist schon sechs Uhr!‘

Ihr stockte der Atem. Sie war aus dem letzten Bus, der hier hielt, ausgestiegen. ‚Mein Gott! Was mache ich nur?‘ Ihr Blut rauschte durch die Adern. Hektisch schritt sie auf und ab. Schweiß brach aus allen Poren. Dorothee blickte zwischen der leeren Landstraße und der einsamen Gestalt hin und her. Der helle Trenchcoat hob sich im Dämmerlicht vom Wald ab. Kurz entschlossen lief sie ihm nach.

Im Wald führte der Weg zu einer Halle aus rotem Backstein. Überreste einer Fabrik. Dorothee rang nach Luft. Sie war zu schnell gerannt, in der Angst, sie könne den Fremden verfehlen. Alles war ruhig, nur die Bäume rauschten im Abendwind. „Hallo! Ist da jemand?“ Zögernd ging Dorothee auf das Gebäude zu. Vielleicht sollte sie doch besser umkehren und zu Fuß nach Hause laufen. Da flammte hinter einem der Fenster ein Lampe auf. Hunderte kleine, quadratische Scheiben warfen ein Lichtnetz auf den Platz. An der anderen Seite des Gebäudes fand Dorothee eine Tür. Ein Glas war gesprungen, die anderen durch Spanplatten ersetzt. Sie klopfte zaghaft. Schritte näherten sich, knarrend öffnete sich dir Tür und muffiger Geruch stach ihr in die Nase.

Dorothee brachte keinen Ton heraus. „Ja?“  „Entschuldigen Sie bitte die Störung. Könnten Sie mir ein Taxi rufen?“ Der überraschte Gesichtsausdruck des Mannes wandelte sich in ein amüsiertes Lächeln. „Sicher, aber es dauert etwas.“ „Das macht nichts, ich werde einfach hier warten.“ Dorothee atmete auf. „Wollen sie eine dreiviertel Stunde in der Kälte stehen? Kommen Sie doch herein.“ „Wieso so lang?“ Erneut stieg Panik in ihr auf. Nach dem schnellen Lauf fröstelte sie. „Ich habe kein Telefon und muss ins Dorf hinaufgehen. Bis ich dort bin, vergehen sicher zwanzig Minuten. Und dann dauert es etwas, bis das Taxi kommt.“ „Können Sie mir nicht den Weg zeigen?“ Der Fremde betrachtete ihre Stadtkleidung und schüttelte den Kopf.

„Der Weg ist zu matschig. Sie dürfen gerne bei mir warten. Möchten Sie eine Tasse Tee?“

Dorothee war überrumpelt. Wollte sie wirklich an diesem Ort bleiben? Die Gastfreundschaft des Fremden überraschte sie. Hier wirkte er eher wie ein Herr. Konnte sie ihm vertrauen? Seine Augen blitzten freundlich, so dass sie das Angebot annahm.

Das Klappern ihrer Schuhe verstärkte sich, als sie die Halle betrat. Unruhig sah sich Dorothee um. Rechts stapelten sich Kisten über Kisten, sorgfältig beschriftet: Feuerzeuge, Kullis, Haargummis. Auf der anderen Seite türmten sich Möbel: Sessel und Sofas, Schränke, ein Gewirr aus Stühlen mit und ohne Sitzpolster. Über all dem lag ein dichter Staubteppich. Dorothee wurde schlecht. Wie konnte ein Mensch in so einer Umgebung leben? Als sie weiter kamen, klangen ihre Schritte dumpfer. Der Schall wurde von Bergen von Stoffbahnen und Kleidern geschluckt, zwischen denen Sägespäne und Mäuseköttel Häufchen bildeten. Der Mann ist verrückt! Krampfhaft versuchte sich Dorothee an dem Gedanken an ihre gepflegte Wohnung festzuhalten. Aber jeder neue Anblick verwischte das rettende Bild. Endlich hatten sie die Hölle durchschritten. Am Ende öffnete sich ein niedriger Bereich. Ein kleiner Ofen verströmte Wärme. Darauf stand ein alter Wasserkessel, der gerade anfing zu pfeifen.

„Nehmen Sie Platz.“ Trenchcoat wies mit seiner Hand auf den einzigen Sessel und machte sich an einer Küchenvitrine zu schaffen. „Darf ich fragen, wie sie heißen?“ Dorothee setzte sich steif auf den vorderen Rand des Polsters. „Nennen Sie mich Silvio.“ Wasser plätscherte und Silvio reichte Dorothee einen Tee. Skeptisch drehte und wendete sie die Tasse, aber sie schien sauber zu sein. Verführerisch stieg ihr der Dampf in die Nase. „Woher haben sie all die Sachen?“, fragte Dorothee. „Vom Sperrmüll. An Bushaltestellen findet man viele Dinge. Und oft verschenken Leute über Inserate ihre Möbel.“ Silvio hüstelte. Dorothee spürte zum ersten Mal eine Unsicherheit bei ihm. „Ich laufe jetzt nach Zährental“, lenkte er das Gespräch ab. „Der Taxifahrer wird hupen. Wahrscheinlich sind sie schon weg, wenn ich zurückkomme.“ Jäh streckte er ihr seine Hand hin. „Leben Sie wohl, Dorothee“, sagte er, als sie sie zum Abschied ergriff.

Die Teetasse war leer. Unruhig rutschte Dorothee auf dem Sessel hin und her. Ihr Blick schweifte über die Regale, die die Sicht auf die Halle begrenzten. Bewegten sich dort etwas? Ihre Augen begannen zu tränen, so angestrengt starrte sie ins Dunkel. Es waren Staubsaugerschläuche, die sorgfältig nebeneinander aufgereiht hingen. „Wie zu Hause“, dachte sie und das Bild ihres Putzschrankes tauchte vor ihr auf. Und dort drüben? Was war das? Dorothee traute sich nicht nachzuschauen. Endlich erkannte sie die Gegenstände. In dem der Regal stapelte sich Geschirr: Teller, sortiert nach Form und Farbe, daneben Tassen. Wofür brauchte er so viele davon? Langsam ließ ihre Beklemmung nach. Sie ging zu dem Regal und mechanisch rückte ihre Hand jede Tasse zurecht, die Griffe immer schräg nach vorne gerichtet. In Gedanken sah sie Silvio, wie er seine neuesten Errungenschaften sortierte. Sie schlenderte zur Küchenzeile und reinigte ihre Tasse. Als das Hupen ertönte, hielt Dorothee für einen Augenblick inne. Eine Ahnung erfüllte sie. Mit jedem Schritt in Richtung Ausgang wurde ihr die Umgebung vertrauter. Erfrischt trat sie in die kühle Nachtluft. Sie wusste nicht, warum, aber an diesen Ort würde sie immer gerne zurückdenken.

Einige Tage später fand Dorothee ihr Taschentuch wieder. Sorgfältig zusammengefaltet lag es auf der Bank in der Bushaltestelle. Das Weiß schimmerte matt, durchbrochen von einigen Flecken. Andächtig hob sie es auf und strich über die Initiale, die sie eigenhändig gestickt hatte. Dann führte sie es zur Nase und versank im Duft staubiger Erinnerungen.

Autor: Barbara Seyfarth

Informatikerin Embedded Systeme (Automotive, Industrial Solutions) Safety + Security Certified Professional for Software Architecture (Advanced Level) Autorin