Der letzte Termin

Februar 2006

Wie ein Blitz zuckte der Schmerz durch ihren Kopf. Die Finger krampften sich um die Tischplatte, sie konnte sich aber nicht halten. Mit aufgerissenen Augen sackte Resi in sich zusammen, ihr Kinn knallte auf die Kante, bevor der Körper unter den Tisch rutschte.

Als sie aus der Bewusstlosigkeit auftauchte, war ihr erster Gedanke: „Der Anwaltstermin!“ Sie fühlte sich zerschlagen, Wangen und Kinn schmerzten, ihr Kopf schien zu bersten. Wo bin ich? Orientierungslos blickte sie auf das Tischbein neben sich und die Blutflecken, die den Boden sprenkelten. Sie versuchte den Kopf zu drehen, einen Laut von sich zu geben, aber nur ein leises Wimmern entschlüpfte ihren Lippen. Die Zunge klebte wie ein fremder Gegenstand am Gaumen und erschwerte ihr das Atmen. Was war geschehen?

„Ich muss aufstehen! Sonst komme ich zu spät!“ Resi versuchte sich aufzurichten. Sie hatte keine Kontrolle, ihre Körper reagierte nicht. Furcht schnürte ihr den Hals zu. Erschüttert lag sie da, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, sich der Außenwelt bemerkbar zu machen. Am Rande ihres Blickfeldes konnte sie die Uhr erkennen, der Stundenzeiger war über die Zehn hinaus gerückt. So lange hatte sie hier gelegen? Die Zeit, ihr Termin verstrichen. Resi wollte heute ihr neues Testament unterschreiben, ihren Neffen enterben. Wut stieg in ihr auf und der Wunsch, zu leben, um diesen letzten formalen Akt durchzuführen.

Die Schmerzen wurden wieder stärker. Tausende von Nadeln schienen sich ins Gehirn zu bohren. Ihr war schwindelig und übel. Als sich ein schwarzer Nebel über ihre Augen legte, kamen die Erinnerungen.


Der Fahrradlenker ragte unter dem Auto hervor. Nie würde Resi diesen Anblick vergessen. Sie zögerte, atmete tief ein, dann schritt sie weiter. Da lag Anja, ihre geliebte Schwester, mit zertrümmertem Schädel. Torsten kniete neben seiner Mutter, seine Schultern zuckten vor Schmerz und Trauer. Resi nahm ihren Neffen sanft in den Arm und still beobachteten sie, wie der Körper der Toten in einen Leichenwagen gehoben und weggefahren wurde. „Wir schaffen das schon, ich werde dir helfen, Torsten.“ Ihre Worte klangen eher unsicher als zuversichtlich.


Resis Bewusstsein wurde wieder klarer. Sie schmeckte Blut, versuchte die verkrampft aufeinander gepressten Zähne zu lösen, die zerbissene Wange zu schonen. Irgendwie musste sie sich bemerkbar machen. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, rutschte sie in Richtung Flur. Schwerstarbeit. Erschöpft hielt sie nach kurzer Zeit inne.


„Torsten, hast du die Unterlagen von deinem Erbkonto?“ Aufgeregt trat sie in das Zimmer des Jungen. Er war nach dem Tod seiner Mutter zu ihr gezogen, sie hatte Anjas Wohnung vermietet. Grummelnd nuschelte Torsten: „Das ist mein Geld.“ Wütend knallte Resi ihrem Neffen die neuesten Kontoauszüge auf den Tisch. „Natürlich. Und wo ist es hin?“ Starr blickte er nach unten. „Mit dem Geld wollten wir dein Studium finanzieren“, erzürnte sich Resi. Immer noch Schweigen. „Ich will jetzt wissen, was du damit gemacht hast!“ „Es ist weg.“ „Weg?“, schrie sie. In ihr kochte es. Wütend funkelte Torsten sie an: „Ja, weg! Ich habe spekuliert. Und es hat nicht funktioniert! Immerhin ist es mein Geld.“ „Du lebst auf meine Kosten! Wenn du meinst, du könntest machen, was du willst, dann kümmere dich um dich selbst. Sobald Anjas Wohnung frei ist, fliegst du hier raus!“

Später bereute Resi den Streit, aber erst als Torsten Larissa kennenlernte, verbesserte sich ihre Beziehung. „Tantchen, wir wollen heiraten“, eröffnete er eines Tages das Gespräch. „Larissa ist schwanger!“ Seine Augen leuchteten. „Meinen Glückwunsch!“, freute sich Resi. „Kann ich euch irgendwie unter die Arme greifen?“ Zum ersten Mal erwachte das Gefühl der Zusammengehörigkeit. „Tantchen“ wurde zur Ersatzoma für die kleine Leonie. Sie übernahm diese Rolle gern und unterstützte die drei.


Resis Brust verkrampfte sich bei dem Versuch, die Tränen zu unterdrücken. „Meine süße Leonie! Werde ich noch einmal die Chance haben, dich zu sehen? “ Mühsam versuchte sie, den Speichel zu schlucken, der aus ihren Mundwinkeln tropfte. „Ich muss weiter, nur bis zum Telefon.“ Als sie sich vorwärts schob, spürte sie, wie die Lebenskraft unaufhaltsam aus ihr hinausströmte. Würde sie durchhalten, bis Hilfe kam?


Resi erinnerte sich noch gut an den Abend, als sie das laute Weinen Leonies im Treppenhaus hörte. Erschrocken öffnete sie die Tür und Larissa fiel ihr schluchzend in die Arme: „Ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen soll.“ Resi führte die beiden ins Wohnzimmer und versorgte sie mit Tee und Kakao. „Papa hat mich gehauen“, klagte Leonie, „ich war doch ganz lieb!“ Nachdem sie sich etwas beruhigt hatten, brachte Resi die Kleine ins Bett. „Du darfst heute Nacht bei mir schlafen, mein Schatz!“

„Ich lasse mich scheiden!“ Larissa umklammerte die Teetasse. „Geht es euch so schlecht? Ist da gar kein Vertrauen mehr?“ „Vertrauen!“, stieß Larissa verächtlich aus. „Er hat unsere gesamten Rücklagen verspekuliert. Heimlich. Heute bin ich zufällig über eine Mail gestolpert, sonst hätte ich es gar nicht bemerkt.“ „Und Leonie? Was war da?“, fragte Resi besorgt. „Ach das. Ja, sie hat eine von ihm gefangen, nichts Schlimmes. Sie kam ihm zufällig in die Quere, als ich ihn zur Rede gestellt habe. Torsten war sauer. Auch nichts Neues. Miteinander reden können wir schon lange nicht mehr. Er hat richtig gerast: ‚Raus! Verschwindet! Ich kann dieses Geplärre nicht mehr hören!‘ Ich hab‘ mir Leonie geschnappt und bin zu dir gefahren.“


Aus der Wut auf ihren Neffen schöpfte Resi neue Kraft. „Ich will nicht sterben! Ich will nicht, dass dieser verfluchte Kerl mein Geld verschleudert“, dachte sie. Verzweifelt schaute sie auf das Telefon, das noch Meilen entfernt zu sein schien. Sie rutschte weiter, bekam endlich das Kabel in die Hand und zog. Mit lautem Klirren fiel das Telefon zu ihr herunter. Doch ihr Bewusstsein schwand wieder und sie fiel in einen traumartigen Zustand.


Resis Schwester Anja stand neben ihr. Sie schauten sich an. Tränen waren in beider Augen und sie hörten ihre Mutter schimpfen: „Wie konntest du Anjas Puppe kaputt machen? Dafür bekommt sie jetzt deine!“ Resi versuchte zu erklären: „Ich musste doch wissen, wie es innen drin aussieht.“ „Ungehöriges Kind! Geh in dein Zimmer.“

„Anja, ich musste es einfach wissen! Ich konnte doch nicht meine eigene, liebe Isabell aufschneiden. Du hast deine Puppe nie angesehen.“ „Ich weiß.“ „Mama hat gar nicht versucht, mich zu verstehen.“ „Hast du je versucht, Torsten zu verstehen?“ „Das ist doch etwas ganz anderes!“ Aber es war nichts anderes, das wusste Resi. „Steh auf, Resi!“ „Ich kann nicht! Schau, wie schlecht es mir geht.“ „Lass deinen Körper sein, es ist Zeit! Er hilft dir nicht mehr weiter.“


Alle Wut und Anspannung fielen von Resi ab. Der Weg lag klar vor ihr. Sie drehte sich ein letztes Mal um und sah, wie Leonie fröhlich um ihren Vater herum hüpfte. „Wie ein Flummi“, dachte Resi und dann ging sie Hand in Hand mit ihrer Schwester an einen anderen Ort.

Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreiblust-Wettbewerbs Februar 2006. (Schreiblust-Verlag)

Autor: Barbara Seyfarth

Informatikerin Embedded Systeme (Automotive, Industrial Solutions) Safety + Security Certified Professional for Software Architecture (Advanced Level) Autorin