Die Trommel

März 2006

Der Nordwind zerzauste Annas weiße Haare. „Der Duft Sibiriens“, dachte sie, als sie über die Berge ihrer Heimat Tuva blickte. Dann ging sie nach Hause, legte sich auf ihr Lager und starb.


Lydya klammerte sich mit aufgerissenen Augen an den Rock ihrer Mutter. Drei Schamanen standen um das Feuer und schlugen mit ihren Peitschen auf die Flammen. Das Kind wusste, dass dort der Geist ihrer Großmutter Anna war, deren Körper sie gestern bestattet hatten. Mutter hatte erklärt, dass die letzten Wünsche der verstorbenen Seele erfüllt werden mussten. „Sonst kommt sie zurück und nimmt einen von uns mit!“
Lydyas Kehle war wie zugeschnürt, ihr Herz raste. Die Flammen züngelten höher. Da sah sie die Augen, Großmutters Augen. Der glühende Blick lähmte sie und die Stimme der Alten hallte in ihren Kopf: „Du wirst in meine Hütte gehen und die Trommel nehmen. Reite auf den Schwingen des Vogels!“
„Mama!“, kreischte Lydya. Ihr war, als würde eine heiße Hand nach ihr greifen und sie ins Feuer ziehen. Mit lautem Schluchzen brach sie zusammen. Arme hoben sie sanft auf, als sie in dunkles Vergessen sank.


„Was sollen wir tun, Nikolai?“
Mutter saß neben dem Lager. Lydya war aus einem traumlosen Schlaf erwacht. Sie blieb still liegen, um zu horchen. Der Schamane antwortete: „Wir können nichts tun. Wir waren zu dritt, um Annas Macht zu zähmen. Keiner von uns hat den Ausbruch aus dem Feuer wahrgenommen. Erst als es zu spät war.“
„Und was ist mit Lydya? Wird sie wieder gesund?“
„Ein dichter Nebel liegt um ihre Seele.“
„Nikolai! Was hat Anna mit meinem Kind gemacht?“
„Ich weiß es nicht. Sie gab mir einen Auftrag. Ich soll das Kind zu ihrer Kate bringen.“
„Wieso Lydya, wieso meine kleine Lydya?“, schluchzte die Mutter.

Eine Gänsehaut lief Lydya über den Rücken und ließ sie erzittern. Ihre Brust krampfte sich zusammen, nur mit Mühe konnte sie die Tränen unterdrücken. Besorgt legte die Mutter ein Tuch getränkt mit kühlem Kräuterwasser auf die fiebernde Stirn und streichelte über die schweißfeuchten Haare.
Nikolai sprang herbei: „Lydya? Bist du wach?“
Das Kind öffnete die schweren Lider. Ruhig und ernst schaute der Schamane in ihre Augen.
„Du weißt es“, stellte er fest und verließ hastig die Hütte. „Was weiß ich?“, dachte Lydya verwirrt und barg ihren Kopf in Mutters Schoß.


Einige Tage später nahm Nikolai Lydya mit. Auf dem Weg erklärte er: „Deine Großmutter Anna war eine der mächtigsten Schamaninnen unserer Zeit. Was dich in ihrer Hütte erwartet, wird nicht einfach sein.“

Lydya stieß die niedrige Tür auf. Knarrend gab sie den Blick auf das Innere der Kate frei. Es roch nach kalter Asche und verbrannten Kräutern. Das Kind wagte nicht, den dämmrigen Raum zu betreten. Zitternd und immer noch fiebernd stand sie im Eingang und wartete. Der Gesang der Vögel verstummte. Die plötzliche Stille brachte ihr Herz zum Rasen. Da vernahm sie ein Wispern. Oder war es der Wind? Jetzt hörte sie es deutlicher, ein Raunen.

Wie in Zeitlupe setzte Lydya ihren Fuß über die Schwelle. Schwankend stützte sie sich am Türrahmen. Ihr Blick verschwamm. Und da waren sie wieder – die glühenden Augen ihrer Großmutter in den lodernden Flammen. Ein klagender Ton entsprang Lydyas Kehle. Sie wollte fort von hier, fliehen, vergessen. Aber eine fremde Macht zwang ihre Schritte weiter hinein. Lydyas Augen hefteten sich auf eine grobe Decke am Boden. Kam das Geräusch von dort? Langsam streckte sie ihre Hand aus, berührte den rauen Stoff. Sie griff fester zu und zog das Gewebe zu sich.

Da lag sie. Annas Trommel. Sie war groß und flach. Das Hirschleder glänzte. Schwarze und rote Linien zeichneten die Umrisse eines Vogels auf das Fell. Die Sehnen im Inneren waren zu einem Kreuz zusammengezogen und mit Leder umwickelt. Lydya erinnerte sich an ihre Großmutter: in der Rechten den Schlegel, der auf der Trommel in ihrer linken Hand zu tanzen schien. Der Blick verschleiert, abwesend, und doch alles durchdringend.

Zögernd griff Lydya nach dem Instrument. Als sie das Leder berührte, war ihr, als spürte sie tausend Stiche in den Fingerspitzen. Erschrocken zog sie die Hand zurück. Mühsam versuchte sie zu schlucken, ihr Mund war trocken.
Wieder wisperte etwas. Es war, als spreche die Trommel mit ihr. Lydya beugte sich näher und horchte.

Als Schritte hinter ihr erklangen, atmete sie erleichtert auf. Nikolai kam. „Du wirst trommeln!“, befahl er. „Ich begleite dich, so weit ich kann.“ Er schichtete Reisig in die Feuerstelle und entzündete sie. Dann warf er Kräuter hinein. Betäubender Rauch stieg auf, umhüllte Kind und Mann. Es kratzte in der Kehle, Lydya fühlte sich schwindelig und benommen. Starr schaute sie auf den Schlegel, der vor ihr lag. „Nimm sie jetzt!“, sagte Nikolai bestimmt.

Hastig griff sie zu, erwartete wieder die schmerzenden Stiche. Doch die Trommel fühlte sich glatt und kühl an. Mühsam umklammerte Lydya das Lederkreuz im Innern, konnte sie gerade mit einer Hand halten. Nikolai umfasste ihre Hände und wies sie ein. „Schlage mit dem Schlegel immer drei Schläge im Kreis, so wie die Sonne wandert.“
Bumm, bumm, bumm – bumm, bumm, bumm.
„Schneller! Fühle den Puls der Erde.“
Lydya schlug, erst langsam, dann schneller und schneller. Ihre Hände und Arme waren steif, die Schultern verkrampft.
Bumm, bumm, bumm – bumm, bumm, bumm.
Sie spürte es. Das Trommeln verband sich mit der Erde. Ihr Atem wurde zu Lydyas Atem. Das Herz der Erde schlug mit Lydyas Hand im Takt.
Bumm, bumm, bumm – bumm, bumm, bumm.


Vor dem Mädchen riss ein Abgrund auf und sie fiel – tief und tiefer. Sie schrie – laut und lauter. Da war Nikolai neben ihr. Er griff nach ihr. Sanft landeten sie am Ufer eines Flusses. Irritiert schaute sie ihn an. Sie spürte immer noch die Trommel in der Hand und den Boden der Kate unter ihren Füßen. Gleichzeitig war sie hier, an diesem Fluss.
„Deine Seele ist hier. Dein Körper verweilt in der mittleren Welt“, erklärte Nikolai. „Sie sind verbunden.“ Er wies über den Fluss.
„Am anderen Ufer ist die Stadt der Stille. Dort musst du hin. Du bist schutzlos, niemand kann dich begleiten, aber nimm dieses.“ Nikolai legte ihr ein Tuch über Kopf und Schultern. In den Stoff waren Perlen und Federn eingearbeitet.

Lydya blickte auf das Wasser. Sie war allein. Allein! Die Angst kroch ihren Nacken hoch. Wo war Nikolai? Seine warme Hand? Seine beruhigenden Worte?

Grau waberte Nebel über dem Fluss. Lydya beobachtete regungslos, wie sich aus den Schwaden Figuren formten, verzerrte Gesichter, stumme zum Schrei aufgerissene Münder. Wie sollte sie über diesen Strom kommen, vorbei an den Schreckensbildern? Sie kamen näher, deutlich sah das Kind, wie sich Hände nach ihr ausstreckten. Ihre Berührung war klamm und kalt. Lydya sank kraftlos in die Hocke und umklammerte Schutz suchend ihre Beine.

„Was soll ich tun?“, schrie sie in Gedanken. Tränen rannen ihre Wangen herab. Leise begann sie zu summen, eine Melodie, tröstlich, sie kam aus einer fernen Welt zu ihr. Lydya versuchte sich zu erinnern. Die Töne vibrierten in ihrem Körper. „Mutter!“, dachte sie. Und nun wusste sie es wieder. Das Schlaflied ihrer Kindheit schenkte Geborgenheit und Wärme.

Die Nebelgestalten wichen zurück, auf der anderen Seite stand ihre Großmutter. Sie hielt ein Kind an der Hand, ein Kind in Lydyas Alter. „Großmutter Anna!“, rief Lydya, „was soll ich tun?“ Leise vernahm sie die Antwort: „Überwinde deine Ängste! Reite auf den Schwingen des Vogels!“

Da wurde der Nebel wieder dichter. Die wallenden Gestalten gewannen an Kraft, zupften an ihrem Gewand. Kalte Klauen zerrten an ihr. Lydyas Füße berührten das Wasser. Sofort spürte sie, wie die Lebenskraft aus ihr heraus rann und weggespült wurde. „Nein!“ Erschrocken sprang sie zurück, versuchte die Schemen zu vertreiben, aber ihre Hände durchteilten nur die feuchte Luft.

„Überwinde deine Ängste!“ hatte Großmutter gesagt. Lydya begann wieder zu summen. Die Kälte wich, sie wurde ruhiger und ihre Stimme kräftiger. Der Nebel lichtete sich, die Gestalten verloren an Form. Lydya breitete ihre Arme aus. Das Tuch auf ihren Schultern rauschte und sie sang in der Melodie ihrer Kindheit: „Ich reite auf den Schwingen des Vogels.“ Lydyas Arme waren Flügel, sie spürte den Wind in den Federn. Entstand der Wind in ihr? Mit kurzen Schlägen hob sie sich in die Luft, den Fluss unter sich lassend. Die Nebelfetzen versuchten nach ihr zu greifen, konnten sie aber nicht mehr erreichen.

„Großmutter!“ Lydya sank in Annas Umarmung. Erleichtert schaute sie auf das Mädchen, das neben ihrer Großmutter stand. „Aber das bin ja ich?“
Anna führte die Hände der beiden Kinder zusammen und im Kreise tanzend verschmolzen sie und wurden Eins.
„Mit diesem Teil deiner Seele übertrage ich dir meine Macht, nutze sie weise!“ Lächelnd strich Anna ihrer Enkelin über den Kopf. „Nikolai wird dir ein guter Lehrer sein. Nun geh, Tochter des Falken!“

Gedankenverloren strich Lydya über das federnbesetzte Tuch. Dann breitete sie ihre Arme aus und stieg hoch und höher, der Sonne entgegen. Die letzten Reste der Angst fielen von ihr ab. Laut jubilierend erwachte sie in Nikolais Schoß.

Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreiblust-Wettbewerbs März 2006. (Schreiblust-Verlag)

Autor: Barbara Seyfarth

Informatikerin Embedded Systeme (Automotive, Industrial Solutions) Safety + Security Certified Professional for Software Architecture (Advanced Level) Autorin