Ungenügende Absprachen

Wer kennt es nicht. Eben ist die Welt noch in Ordnung. Ich bin stolz, wie ich die verschiedenen Herausforderungen bewältige. Und dann treffe ich eine Entscheidung. Erst mal sieht alles gut aus. Aber kurze Zeit später merke ich: „Das war wohl nichts!“ So ging es mir in den letzten Tagen einige Male. Grund genug, das zum Thema der Woche zu küren.

Die Situation: Nachdem ich meine Analyse meinem Kunden vorgestellt hatte, erhielt ich erst mal keine Antwort. Da mir klar war, dass ich so oder so mit einem der Themen beginnen muss, beschloss ich, die Arbeit anzugehen. Es ging prima voran und bald konnte ich die ersten Ergebnisse einchecken. In der Zwischenzeit hatte ich auch schon kurz Rückmeldung bekommen, dass die Mails angekommen waren und auf einige meiner Fragen Antwort bekommen.

Als ich allerdings eingecheckt hatte, kam ein Aufschrei. Nein, so schlimm war es natürlich nicht, es war eigentlich nur die Bitte, dass wir uns doch erst absprechen müssten. Aber in dem Augenblick, in dem ich die Mail las, wurde mir klar, dass ich etwas voreilig gehandelt hattte. Insbesondere hatte ich nicht klar abgesprochen, ob die Richtung, die ich eingeschlagen hatte, gut war.

Das ist jetzt insgesamt kein Beinbruch, aber unangenehm angefühlt hat es sich schon. Obwohl ich genau weiß, wie wichtig klare Kommunikation ist, tappe ich immer wieder in die gleiche Falle. Ich mache nur halbe Absprachen und denke, dass der Rest dem anderen schon klar ist. Wenn sowas passiert, mache ich mir oft nachts noch Gedanken, wie ich das jetzt wieder ausbügeln kann. Auf jeden Fall schießt mir im ersten Augenblick das Adrenalin ins Blut und dann beschäftigt mich die Situation noch einige Zeit.

Ich bin natürlich sofort auf das Gesprächsangebot eingegangen und nach einem ausführlichen Telefonat war klar, wie wir unsere Arbeit koordinieren – und ich konnte einige unverhofft schöne Aufgaben übernehmen.

In diesem Fall ist die Geschichte positiv für mich ausgegangen.

Das Klagen der Schwäne

Januar 2015

Es ist ein kalter, klarer Morgen. Ich stehe am Bahnhof und starre auf das Wasser der Weser, über die Gleise hinweg, den Bahndamm hinunter, dahinter die befestigte Mauer, unter der sie vorbeifließt. Weiße Eisschollen, rund wie Tortenböden, treiben an mir vorbei.

Eisschollen? Ich habe noch nie Eisschollen auf der Weser gesehen. Mühsam kramt mein Hirn in den Erinnerungen, sucht einen Grund dafür, dass das Wasser noch nie Eisschollen trug, bis es mir dämmert. Das Atomkraftwerk – solange das Atomkraftwerk lief, wurde das Kühlwasser in den Fluss geleitet. Da konnten sich die Eisschollen nicht halten, sie schmolzen, bevor sie Höxter erreichten. Ich höre ein Rauschen. Die Sonne spielt mit den glitzerden Kristallen und krönt die weißen Tortenböden. Zwei Schwäne gleiten gemächlich vorbei. Das Schwingen ihrer Flügel erfüllt die Luft. Sonst herrscht Schweigen.

Meine Gedanken begleiten die Schwäne. Sie spannen ihre Flügel aus und schweben über das Wasser hin, den Strom hinauf. Unter ihnen die Schollen, über ihnen ein blauer unberührter Himmel.
Ich schwinge mich auf und schließe mich ihnen an. Neben mir spüre ich ihr gleichmäßiges ruhiges Schlagen, ihre Anmut in der Luft. Und ich erzähle ihnen meine Geschichte, von den Tagen, als ich noch ein Schulkind war, von den Dampfern, die die Weser hoch und runter fuhren, von den Ruderbooten und den kalten und den warmen Zeiten.

Ich erzähle ihnen, wie ich Höxter verließ, um zu studieren, wie ich einen Freund fand und eine Familie gründete. Ich singe von glücklichen und traurigen Tagen und die Schwäne stimmen ein in meinen Gesang, begleiten mich durch die Zeit und durch den Raum.

Es war ein langes Leben, und hier, am Ort meiner Kindheit schwebe ich nun über das Wasser hinweg. Meine Seele winkt ein letztes Mal und eilt in Richtung Sonne. Weit unten klagen die Schwäne – ein Gruß bevor ich die Welt verlasse.

Verwandte Seelen

Januar 2007

Dorothee liebte das Gefühl in ihren Fingerspitzen, wenn sie mit ihrem Putztuch über den polierten Granit glitt. Es war wie eine Liebkosung. Sie rückte die drei Kerzenhalter auf der Fensterbank in eine exakte Gerade. Dabei fiel ihr Blick auf die Schneeflöckchen, die an der Glasscheibe hinunterrutschten und wässrige Eisklumpen bildeten. „Was für ein Wetter“, seufzte sie. Morgen würde sie das Fenster putzen müssen. Ihr Wecker piepste. Höchste Zeit zu gehen. War auch wirklich alles in Ordnung? Während sie den Mantel überstreifte, begutachtete sie ihr Werk. Eilig lief sie zum Fenster und korrigierte die Position einer der Kerzen, dann verließ sie ihre Wohnung.

Endlich kam der Bus. Die Tür schwang auf und ein Mann in langem Trenchcoat drängte sich heraus. Er roch staubig. Dorothees Nase kräuselte sich. Sie trat einen Schritt zur Seite, bis die Gestalt vorbei war. „Komischer Kerl“, nuschelte der Busfahrer ihr zu und wies mit einem Kopfnicken nach draußen. Dorothees Augen folgten der Geste. Der Fremde hob gerade etwas vom Boden auf. „Schnüffelt an den Haltestellen rum, als hätte er etwas verloren.“

„Vielleicht räumt er auf?“, vermutete Dorothee, nachdem sich der Mann ein zweites Mal bückte. Etwas Blütenweißes leuchtete in seiner Hand. „Mein Taschentuch … ich muss raus!“ Aber der Bus fuhr schon und der Fahrer weigerte sich, anzuhalten. „Den sehen Sie bestimmt wieder. Der fährt mit der ‚3‘ immer im Kreis. Von einer Haltestelle zur nächsten.“

Die Besorgungen dauerten länger als geplant. Mittlerweile quollen die Menschen aus Bürohäusern und Fabriken und verstopften die Stadt. Der Bus schaukelte. Dorothee klammerte sich an die Haltestange. An der Ampel stolperte sie gegen den Rücken mit den Schweißflecken. Heimliche Blähungen verpesteten die Luft. Dorothees Kehle schnürte sich zusammen. Verstohlen schielte sie an sich herunter, überprüfte, ob ein dreckiger Schulranzen weit genug entfernt war. Endlich verließen sie die Randbezirke der Stadt. Ein leises „Plink“ ertönte, und das Haltelämpchen leuchtete auf.

Mitten auf dem Land? Stimmt, dieser Bus fuhr die Schleife über Zährental.

Neugierig streckte Dorothee ihren Kopf hoch. Wer wohl in dieser Einöde wohnt? Da sah sie den Trenchcoat an der Vordertür.

‚Mein Taschentuch!‘, schoss es ihr durch den Kopf. Die Tür zischte beim Öffnen und der Fremde stieg auf die Straße. „Halt! Ich möchte auch raus!“, rief Dorothee. Sie schob den Schweißsee zur Seite, drängelte sich durch die Leiber, stieß mit ihrem Oberschenkel gegen einen Laptop und kletterte hinaus. Schnaufend klopfte sie ihren Mantel glatt. Trenchcoat wühlte im Papierkorb. „Entschuldigung.“ Der Fremde zog aus einer zerfetzten McDonald-Tüte ein Päckchen Ketchup. Dorothee räusperte sich. „Sie haben heute am Fliederweg ein Taschentuch gefunden.“

Der Mann unterbrach seine Suche. Seine schwarzen Haare pendelten im Wind, während er für einen unermesslichen Augenblick innehielt. Dorothee wurde sich der Abwegigkeit ihrer Situation bewusst. Hier stand sie – allein mit einem Penner mitten im Nirgendwo. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, teilnahmslos, gleichgültig, welches Schicksal ihr widerfuhr. Kriechend wendete sich seine Gestalt, träge drehte er den Kopf und endlich hob er die Lider. Mit einem Mal sah sich Dorothee im Brennpunkt seiner Aufmerksamkeit. Ein heißer Schauer fuhr über ihren Rücken, als seine klaren Augen sie musterten.

„Frau D.“, sagte er. Seine Stimme klang emotionslos. Dorothee schaute gebannt auf die Erscheinung, gleichzeitig befremdet und angezogen. Sie musste Schlucken, bevor sie antworten konnte: „Dorothee – Dürfte ich es wieder haben?“ Der Fremde schüttelte den Kopf: „Ich habe es nicht mehr bei mir.“ Entgeistert schaute sie zu, wie er nach seiner Sporttasche griff und auf einem Seitenweg in Richtung Wald stapfte.

Mutlos wischte Dorothee eine Träne weg. ‚Ich fahre besser nach Hause‘, dachte sie und studierte den Fahrplan. ‚Es ist schon sechs Uhr!‘

Ihr stockte der Atem. Sie war aus dem letzten Bus, der hier hielt, ausgestiegen. ‚Mein Gott! Was mache ich nur?‘ Ihr Blut rauschte durch die Adern. Hektisch schritt sie auf und ab. Schweiß brach aus allen Poren. Dorothee blickte zwischen der leeren Landstraße und der einsamen Gestalt hin und her. Der helle Trenchcoat hob sich im Dämmerlicht vom Wald ab. Kurz entschlossen lief sie ihm nach.

Im Wald führte der Weg zu einer Halle aus rotem Backstein. Überreste einer Fabrik. Dorothee rang nach Luft. Sie war zu schnell gerannt, in der Angst, sie könne den Fremden verfehlen. Alles war ruhig, nur die Bäume rauschten im Abendwind. „Hallo! Ist da jemand?“ Zögernd ging Dorothee auf das Gebäude zu. Vielleicht sollte sie doch besser umkehren und zu Fuß nach Hause laufen. Da flammte hinter einem der Fenster ein Lampe auf. Hunderte kleine, quadratische Scheiben warfen ein Lichtnetz auf den Platz. An der anderen Seite des Gebäudes fand Dorothee eine Tür. Ein Glas war gesprungen, die anderen durch Spanplatten ersetzt. Sie klopfte zaghaft. Schritte näherten sich, knarrend öffnete sich dir Tür und muffiger Geruch stach ihr in die Nase.

Dorothee brachte keinen Ton heraus. „Ja?“  „Entschuldigen Sie bitte die Störung. Könnten Sie mir ein Taxi rufen?“ Der überraschte Gesichtsausdruck des Mannes wandelte sich in ein amüsiertes Lächeln. „Sicher, aber es dauert etwas.“ „Das macht nichts, ich werde einfach hier warten.“ Dorothee atmete auf. „Wollen sie eine dreiviertel Stunde in der Kälte stehen? Kommen Sie doch herein.“ „Wieso so lang?“ Erneut stieg Panik in ihr auf. Nach dem schnellen Lauf fröstelte sie. „Ich habe kein Telefon und muss ins Dorf hinaufgehen. Bis ich dort bin, vergehen sicher zwanzig Minuten. Und dann dauert es etwas, bis das Taxi kommt.“ „Können Sie mir nicht den Weg zeigen?“ Der Fremde betrachtete ihre Stadtkleidung und schüttelte den Kopf.

„Der Weg ist zu matschig. Sie dürfen gerne bei mir warten. Möchten Sie eine Tasse Tee?“

Dorothee war überrumpelt. Wollte sie wirklich an diesem Ort bleiben? Die Gastfreundschaft des Fremden überraschte sie. Hier wirkte er eher wie ein Herr. Konnte sie ihm vertrauen? Seine Augen blitzten freundlich, so dass sie das Angebot annahm.

Das Klappern ihrer Schuhe verstärkte sich, als sie die Halle betrat. Unruhig sah sich Dorothee um. Rechts stapelten sich Kisten über Kisten, sorgfältig beschriftet: Feuerzeuge, Kullis, Haargummis. Auf der anderen Seite türmten sich Möbel: Sessel und Sofas, Schränke, ein Gewirr aus Stühlen mit und ohne Sitzpolster. Über all dem lag ein dichter Staubteppich. Dorothee wurde schlecht. Wie konnte ein Mensch in so einer Umgebung leben? Als sie weiter kamen, klangen ihre Schritte dumpfer. Der Schall wurde von Bergen von Stoffbahnen und Kleidern geschluckt, zwischen denen Sägespäne und Mäuseköttel Häufchen bildeten. Der Mann ist verrückt! Krampfhaft versuchte sich Dorothee an dem Gedanken an ihre gepflegte Wohnung festzuhalten. Aber jeder neue Anblick verwischte das rettende Bild. Endlich hatten sie die Hölle durchschritten. Am Ende öffnete sich ein niedriger Bereich. Ein kleiner Ofen verströmte Wärme. Darauf stand ein alter Wasserkessel, der gerade anfing zu pfeifen.

„Nehmen Sie Platz.“ Trenchcoat wies mit seiner Hand auf den einzigen Sessel und machte sich an einer Küchenvitrine zu schaffen. „Darf ich fragen, wie sie heißen?“ Dorothee setzte sich steif auf den vorderen Rand des Polsters. „Nennen Sie mich Silvio.“ Wasser plätscherte und Silvio reichte Dorothee einen Tee. Skeptisch drehte und wendete sie die Tasse, aber sie schien sauber zu sein. Verführerisch stieg ihr der Dampf in die Nase. „Woher haben sie all die Sachen?“, fragte Dorothee. „Vom Sperrmüll. An Bushaltestellen findet man viele Dinge. Und oft verschenken Leute über Inserate ihre Möbel.“ Silvio hüstelte. Dorothee spürte zum ersten Mal eine Unsicherheit bei ihm. „Ich laufe jetzt nach Zährental“, lenkte er das Gespräch ab. „Der Taxifahrer wird hupen. Wahrscheinlich sind sie schon weg, wenn ich zurückkomme.“ Jäh streckte er ihr seine Hand hin. „Leben Sie wohl, Dorothee“, sagte er, als sie sie zum Abschied ergriff.

Die Teetasse war leer. Unruhig rutschte Dorothee auf dem Sessel hin und her. Ihr Blick schweifte über die Regale, die die Sicht auf die Halle begrenzten. Bewegten sich dort etwas? Ihre Augen begannen zu tränen, so angestrengt starrte sie ins Dunkel. Es waren Staubsaugerschläuche, die sorgfältig nebeneinander aufgereiht hingen. „Wie zu Hause“, dachte sie und das Bild ihres Putzschrankes tauchte vor ihr auf. Und dort drüben? Was war das? Dorothee traute sich nicht nachzuschauen. Endlich erkannte sie die Gegenstände. In dem der Regal stapelte sich Geschirr: Teller, sortiert nach Form und Farbe, daneben Tassen. Wofür brauchte er so viele davon? Langsam ließ ihre Beklemmung nach. Sie ging zu dem Regal und mechanisch rückte ihre Hand jede Tasse zurecht, die Griffe immer schräg nach vorne gerichtet. In Gedanken sah sie Silvio, wie er seine neuesten Errungenschaften sortierte. Sie schlenderte zur Küchenzeile und reinigte ihre Tasse. Als das Hupen ertönte, hielt Dorothee für einen Augenblick inne. Eine Ahnung erfüllte sie. Mit jedem Schritt in Richtung Ausgang wurde ihr die Umgebung vertrauter. Erfrischt trat sie in die kühle Nachtluft. Sie wusste nicht, warum, aber an diesen Ort würde sie immer gerne zurückdenken.

Einige Tage später fand Dorothee ihr Taschentuch wieder. Sorgfältig zusammengefaltet lag es auf der Bank in der Bushaltestelle. Das Weiß schimmerte matt, durchbrochen von einigen Flecken. Andächtig hob sie es auf und strich über die Initiale, die sie eigenhändig gestickt hatte. Dann führte sie es zur Nase und versank im Duft staubiger Erinnerungen.

Menschen sind schon komische Hunde

Dezember 2006

Am Morgen stand ich in Gedanken versunken am Herd und starrte in den Milchtopf. Die Kinder werkelten am Frühstückstisch. Laura hatte ihr Nachthemd statt eines T-Shirts an, Jan pulte mit dem Messer im Nutella-Glas und Tims Nase steckte in „Burg der Abenteuer“. Aber all das geschah in einer anderen Welt – ich war noch nicht wach.

Erschrocken zuckte ich zusammen, als mein Mann Christof plötzlich hinter mir stand. Er flüsterte mir ins Ohr: „Du musst den Herd anmachen, wenn du warme Milch haben möchtest.“ Dann drehte er mich um und schenkte mir einen innigen Guten-Morgen-Kuss.

„Mama und Papa küssen sich, Mama und Papa küssen sich“, sang mein Ältester und grinste. „Captain Knutscher!“, prustete Laura los und verteilte Müslikrümel und Milchtröpfchen über den Brotkorb. Kichernd rutschten die beiden unter den Tisch. „Was ist denn hier los?“ Christof fischte außer den Kindern auch den weißen Stoffhund namens Cato vom Boden auf. Er ließ das Kuscheltier über die Köpfe der Kinder hopsen und stoppte vor Laura. Hund und Kind verharrten – Auge in Auge.

„Menzchen zind zchon komizche Hunde!“, beschwerte sich Cato. „Küzzen geht ganz anderz.“ Die fusselige Schnauze wischte über Lauras Gesicht. Einmal vom Kinn über die Wange bis zu den Haaren. Sie brach in wieherndes Gelächter aus. „Du muzzt mich jetzt auch küzzen“, forderte das Schnuffeltier meine Tochter auf. Laura drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. „Nein – zo geht daz nich – zooo!“ Christof fegte mit der Hundeschnauze noch mal quer durch ihr Gesicht. „Das mache ich nicht“, sagte sie grinsend. „Dozch, Dozch!“ Cato hüpfte wild herum und demonstrierte ein letztes Mal sein Kusskönnen.

„Na gut.“ Laura zog eine Grimasse, dann streckte sie ihre Zunge raus und gab Cato einen richtigen Hundekuss. Der fünfjährige Jan beobachtete interessiert die Szene, während er genüsslich sein Nutella über Hände, Gesicht und Schlafanzug verschmierte. Er sagte keinen Ton.

Endlich marschierten die Großen zur Schule. Jan zog sich zum dritten Mal an und entschied, was heute mitgenommen werden sollte. An der Kindergartentür setzte er zur üblichen Abschiedsprozedur an: „Tschüss, Mama.“ – Küsschen hier. Küsschen da. „Viel Spaß heute!“ „Und Mamaaaa…. Ich habe dich lieb!“ „Ich habe dich auch lieb.“ Ich ging winkend Richtung Gartentörchen. „Bis morgen und übermorgen und überübermorgen“, rief er mir hinterher. „Bis hintergestern“, brüllte ich zurück und hoffte, die Nachbarn würden uns den lautstarken Abschied verzeihen.

„Mammmmaaaa….. !“ „Ja, was denn?“ Ungeduldig schaute ich über den Zaun. „Ich muss dir noch was sagen. Aber hier!“ „Na gut“, seufzte ich und trottete wieder zurück. Jan zog mich mit ernstem Gesichtchen zu sich hinunter. Ich dachte, er wolle mir etwas ins Ohr flüstern, als er mit seiner Zunge einmal von meinem Kinn über die Wange bis zu den Haaren leckte. „Catokuss“, grinste er und verschwand im Kindergarten.

Ein Tässchen Tee, bitte!

November 2006

Vor etwa zwei Monaten hielt Lucy Arisson den verflixten Brief in der Hand: „Sie haben die Traumreise gewonnen!“ Ihre Teetasse klirrte leise, als sie sie auf das Tischchen am Fenster stellte.

„Sally?“ Die Stimme vibrierte. „Hast du die Lösung des Kreuzworträtsels für mich eingeschickt?“ Sally blickte mit aufgerissenen Augen aus ihrem Buch auf. „Du hast gewonnen?“ Mit einem Jauchzer riss sie ihrer Tante den Brief aus der Hand.

„Lernen Sie die Kultur in der Südsee kennen… Höhepunkt ist der Besuch eines Dorfes, in dem Eingeborene in ihrer ursprünglichen Umgebung leben… Nimmst du mich mit?“ Lucy kochte. „Wie kommst du darauf, dass ich verreisen möchte? Und jetzt dies hier! Ich werde absagen.“ „Aber Tantchen!“ Sally setzte ihren Hundeblick auf. „Es wird dir gut tun! Du warst schon Jahre nicht mehr fort!“ Schließlich willigte Lucy ein und seit drei Wochen waren sie nun auf Schiffsreise.

Am Mittag ankerte das Schiff in der Bucht einer Insel. Mit Beibooten wurde die Reisegesellschaft an Land gebracht. „Ich hab‘ dir doch gesagt, du sollst deine flachen Schuhe anziehen, Tantchen“, schimpfte Sally. „Kindchen, die passen nicht zu meinem Kostüm.“ Aber Lucy gab ihrer Nichte im Stillen Recht. Mit den hohen Hacken versank sie im Sand und kam nur mühsam den steilen Hang hinauf. Ihr Sonnenschirmchen wippte hin und her, wenn sie um ihr Gleichgewicht rang. Auf halber Höhe hielt Lucy keuchend inne. Die Hitze machte ihr zu schaffen. „Mir geht es nicht gut. Mein Kopf schmerzt. Ich gehe lieber wieder hinunter und lass mich zum Schiff zurückfahren. Eine Mittagpause ist besser als dieser Ausflug zu den Wilden.“ Enttäuscht tätschelte Sally Lucys Arm. „Kleines, geh du nur da hin. Ich komme schon allein zurecht.“ Erleichtert sprang die junge Frau den Hügel hinauf. Lucy sah ihr ein wenig eifersüchtig hinterher. ‚Ich sollte endlich was gegen mein Übergewicht unternehmen.‘

Dann machte sie sich an den Abstieg. Am Strand angekommen, musste sie feststellen, dass fast alle Beiboote zum Schiff zurückgekehrt waren. Der Matrose des verbliebenen Bootes war mit ins Dorf gegangen. Frustriert suchte Lucy einen schattigen Platz hinter einem Felsen. Sie knetete ihre geschwollenen Beine. Dann lehnte sie sich zurück und nickte ein…

„Misa Rison! Unbu-khu“ Lucy war sofort hellwach. ‚Was um Himmels willen macht ein fremder Mann in meiner Kabine?‘ Geblendet blinzelte sie in die untergehende Sonne. ‚Meer? Sonne? Sand?‘ Verwirrt rieb sie ihre Augen. ‚Wo bin ich?‘ Erschrocken rappelte sie sich auf, stolperte über den Einheimischen, der vor ihr auf dem Boden kniete, und blickte aufs Meer. „Aber… wo ist das Schiff?“ Tränen schossen ihr in die Augen.

„Misa Rison? Sprechen Englisch?“ Vorsichtig hob der Fremde seinen Kopf. „Natürlich spreche ich Englisch“, fauchte Lucy. „Ich bin Engländerin. Wo ist das Schiff?“ Schnell duckte der Mann sich wieder. „Schiff abfahren. Zur halben Sonne vor Nacht.“ „Wieso haben sie mich hier zurückgelassen?“ Verzweifelt stierte sie auf den nackten Rücken des Mannes. Dunkelbraune Haut, schwarze, lockige Haare. ‚Ich bin allein – auf dieser Insel – allein mit Wilden!‘ Zitternd klappte sie ihr Handtäschchen auf und nahm das Taschentuch. Mit sanftem Druck tupfte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. ‚Wieso habe ich nur auf Sally gehört? Was soll ich jetzt tun?‘

Der Eingeborene kniete immer noch vor ihr. „Stehen Sie doch auf“, bat sie. Als er sich nicht rührte, beugte sie sich ächzend hinunter. „Wie heißen Sie?“ „Titon.“ Endlich bewegte er sich. Seufzend richtete Lucy sich auf und rieb ihren schmerzenden Rücken. ‚Jetzt könnte ich zur Entspannung ein Tässchen Darjeeling gebrauchen‘, dachte sie mit einem Blick auf das endlose Meer. „Ich brauche Ihre Hilfe. Sie müssen die Schifffahrtsgesellschaft benachrichtigen.“ Eindringlich redete Lucy auf den schwarzen Lockenkopf ein. „Helfen. Helfen“, sagte sie schließlich.

Titon nickte. „Kommen. Misa Rison.“ „Ich heiße ‚Miss Arisson‘ nicht ‚Miss A – Rison‘. Woher wissen sie überhaupt meinen Namen?“ „Kommen“, antwortet der Eingeborene nur und lief die Anhöhe hinauf. Als Lucy endlich oben bei den Hütten angekommen war, klebte ihr Hemd schweißnass an der Haut. Der Mund war ausgedörrt, sie hatte seit dem Mittag nichts mehr zu sich genommen. ‚Hoffentlich haben die Eingeborenen so etwas wie Tee.‘ Sie blickte um sich. Nur das Zirpen und Schnarren der Tiere drang an ihr Ohr. Hier waren keine Menschen!

„Wo sind sie?“ „In echte Dorf. Dies nur für Gäste, nicht echte Dorf.“ „Aber…“ „Kommen. Weiter weg. Nacht kommen. Eilen.“ Schon huschte er weiter. Sein dunkler Körper verschwand zwischen den Schatten der Bäume, die in der Senke einen dichten Wald bildeten. Die Sonne färbte die Wipfel der Bäume auf dem gegenüberliegenden Gipfel rot. Im Tal dämmerte es schon. „Warten Sie, ich kann nicht so schnell!“ Mit kurzen, trippelnden Schritten lief sie über den festgestampften Boden durch die kleine Ansiedlung. ‚Wo ist er in den Wald hineingegangen?‘ Unsicher blieb Lucy untern den ersten Bäumen stehen. „Mister!“, rief sie. Sie hörte ein Knacken. „Kommen!“, tönte es und sie folgte dem Klang der Stimme. Der Waldboden war uneben. Wurzeln und Schlingpflanzen machten den Pfad unwegsam. Im Zwielicht der Bäume konnte Lucy schlecht sehen. Sie blieb hängen, ein Absatz ihres Schuhs brach ab. „Autsch“, schimpfte sie. „Eine Safari hat mir gerade noch gefehlt.“

Ihr Führer wartete ungeduldig auf sie. „Kommen!“ „Ich kann nicht.“ Lucy wies auf ihre Füße. „Schuhe weg! Kommen!“ Sie schüttelte den Kopf. Humpelnd folgte sie Titon ins Dickicht. Ihr Rock blieb an Dornen hängen, die Haare wurden von herabhängenden Zweigen zerzaust. Sie stolperte durch den Dschungel, bis sich die Dunkelheit über das Land gelegt hatte.

Endlich glitzerten Lichter durch die Bäume. Erleichtert blieb Lucy am Rand des Dorfes stehen. Sie strich ihren Rock glatt und ordnete mit einem Kämmchen das Haar. Ihr Begleiter lief rufend zwischen den Hütten umher: „Misa Rison. Unbu-kha! Do-khi.“ Sofort kamen die Bewohner heraus und näherten sich ihr langsam und leise flüsternd. Als Lucy in den Schein eines Feuers trat, ging ein Raunen durch die Menge. Plötzlich knieten alle auf dem Boden und verharrten in einer tiefen Verbeugung. Nur eine Frau, mit Blumengirlanden geschmückt, empfing sie lächelnd.

Titon übersetzte: „Tikoa begrüßen Euch. Danken, dass Ruf der Geister gefolgt sein.“ „Ruf der Geister?“ Lucy verstand nicht, was der Mann meinte. Tikoa stand mit geöffneten Armen da. Sie schien auf eine Antwort zu warten. „Sag ihr: Ich freue mich, dass ihr mir helfen wollt. Danke für das herzliche Willkommen.“ „Helfen. Helfen“, bestätigte Tikoa und umarmte Lucy. Jemand reichte ihr eine Schale mit einer Flüssigkeit, die nach Kokosnuss roch. Lucy trank, doch der brennende Durst schien davon kaum gelöscht zu werden.

„Ich hätte gerne einen Tee oder etwas Wasser“, bat sie Titon. Er schaute sie erfreut an und wechselte ein paar Worte mit Tikoa. Diese verbeugte sich vor ihr und forderte sie mit einer Geste auf, ihr zu folgen. Lucys Verzweiflung und Unwohlsein war wie weggeblasen. ‚Das Getränk war wohl vergoren‘, dachte sie. Leichter Schwindel und innere Leichtigkeit erfüllten sie. Neugierig ließ sie sich zu einer der Hütten im Dorf führen und trat ein.

Gestank und eine raue Stimme schlugen ihr entgegen: „Misa Rison! Unbu-khu!“ Beinahe wäre Lucy rückwärts wieder hinausgefallen. Eine junge Frau und ihr Kind lagen auf Strohmatten, die Hütte war mit Exkrementen und Auswurf verunreinigt. Glasige Augen leuchteten im Wiederschein des Feuers, der hoffnungsvolle Blick auf sie gerichtet. Lucy musste ein Würgen unterdrücken, als Tikoa mit einem Gefäß mit kalten Wasser hinter ihr eintrat. „Misa Rison! Ibi Wa-sa. Helfen.“ ‚Was wollen diese Wilden von mir? Ich bin doch keine Ärztin.‘ Lucy hielt es nicht mehr aus. Sie drängelte sich an Tikoa vorbei und stürmte aus der Hütte. Draußen schnaubte sie die stinkende Luft aus ihren Lungen. Ihr Herz raste. Das Kokosgetränk umnebelte ihre Sinne. Aufgewühlt trippelte sie durch das Dorf.

‚Wo ist dieser Übersetzer?‘ In der Mitte der Siedlung brannte ein großes Feuer. ‚Vielleicht finde ich ihn dort.‘ Die Hütten glühten rot im flackernden Licht. Der Platz war leer. ‚Wer ist da hinter dem Feuer?‘ Lucy glaubte eine Gestalt zu erkennen, unbewegt zwischen zwei Hütten. Sie überquerte den Platz und erstarrte. Dort saß geschmückt mit Blumen und bunten Bändern ihr eigenes Ebenbild aus Stein. Lucy rieb sich die Augen, aber sie hatte sich nicht getäuscht. Zögernd näherte sie sich dem Relief und betastete das kühle Gesicht. Sogar einen engen Rock hatte diese Figur an. Das Bild konnte unmöglich in der letzten halben Stunde entstanden sein.

‚Helfen! Helfen!‘, schoss es ihr durch den Kopf. ‚Diese Leute wollen gar nicht mir helfen. Sie denken, dass ich ihnen helfen will.‘ Die Erkenntnis durchzuckte sie wie einen Blitz. ‚Dieser ehrenvolle Empfang, die Ehrfurcht der Menschen. Alles galt diesem Götzenbild aus Stein – Misa Rison.‘ Erschöpft sank sie vor dem Relief nieder. Sie konnte nicht mehr. Das war zu viel für sie. Schluchzend jammerte sie: „Wieso musste mir das passieren? Warum bin ich nur auf diese verdammte Seereise gegangen?“

Sie war müde. Müde und durstig. Und niemand verstand, was sie jetzt brauchte. Ein weiches Bett und eine Kanne voll heißen dampfenden Tee. Krampfhaft versuchte sie die Tränen zu unterdrücken, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. ‚Wie spät es wohl ist. Ob Sally mittlerweile gemerkt hat, dass ich nicht an Bord des Schiffes bin? Sie werden doch sicher nach mir suchen?‘ So in Gedanken versunken, sich selbst bemitleidend, strich sie mit ihrer Hand über die Blätter eines Kräutleins, das zu Füßen der Statue wuchs. Ein melissenartiger Duft stieg ihr in die Nase und weckte die Lebensgeister. ‚Wenn es schon kein Darjeeling oder Assam ist, dann wenigsten ein bisschen Kräutertee.‘

Sie pflückte ein Büschel und rappelte sich auf. Ihre Schuhe drückten und das Humpeln bereitete ihr Schmerzen. Frustriert zog sie sie aus und setzte barfuß ihre Suche fort. „Ich brauche heißes Wasser“, versuchte sie Titon zu erklären. „Kochendes Wasser.“ Er grinste verlegen und hielt ihr ein Gefäß hin. „Wa-sa. Hier!“ „Es muss heiß sein!“ Lucy raufte sich die Haare. Hatte er noch nie was von kochendem Wasser gehört? „Feuer. Wasser auf Feuer.“ Der Mann schüttelte den Kopf und goss das Wasser auf das Feuer. Es zischte und qualmte. „Nein!“

‚Wie machen Eingeborene heißes Wasser?‘ Lucy begutachtete das Gefäß. Das konnte sie nicht übers Feuer stellen, es würde einfach verbrennen. Dann fiel ihr ein Roman ein, in dem beschrieben wurde, wie die Menschen in der Steinzeit Wasser erhitzt haben. So kann ich es ja mal probieren. Suchend blickte sie sich um. Dann drückte sie dem erstaunten Eingeborenen faustgroße Steine in die Arme. „Kommen“, befahl sie. Sie ließ die Steine vorsichtig in die Glut fallen und verlangte nach einer neuen Schüssel mit Wasser. ‚Jetzt muss ich sie nur irgendwie wieder rausbekommen. Es ist zum Verzweifeln!‘

Schließlich fand sie eine Kelle aus Holz. Damit hob sie die heißen Steine aus dem Feuer und ließ sie in die Schale gleiten. Es zischte und dampfte und nachdem sie genug Steine hineingelegt hatte, fing das Wasser tatsächlich an zu kochen. Erleichtert legte sie die Kräuter hinein. ‚Die Asche ist mir jetzt egal‘, dachte sie und schöpfte sich nach ein paar Minuten eine Schale Tee. ‚Hmm, dieses Kraut ist noch aromatischer als unsere Zitronenmelisse.‘ Genüsslich nippte sie an ihrem Getränk und träumte vom weichen Lehnsessel und den gemütlichen Nachmittagen daheim, wenn draußen der Hochnebel die Welt in ein trübes Licht taucht und die Kerzenflamme behaglich knistert.

„Misa Rison? Helfen?“ Tikoa war wieder erschienen und begutachtete neugierig die dampfende Flüssigkeit. Sie schnupperte daran und tauchte vorsichtig ihren Finger hinein. Mit einem leisen Schrei zog sie ihn wieder hinaus. Nach einem weiteren Tee sagte Lucy schließlich: „Miss Arisson jetzt helfen.“ Sie fühlte sich erfrischt und tatkräftig. Ein bisschen konnte sie für die Kranken hier tun. Mit dem Rest mussten sie dann wohl selber fertig werden. „Titon! Du kochst Wasser. Viel Wasser. Tikoa: Wir brauchen sauber Hütten für die Kranken. Verstehst du Titon, was ich sage? Und Tücher. Als erstes werden wir sie mit dem gekochten Wasser waschen.“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, holte sie ihr Tüchlein aus dem Täschchen und deutete an, dass sie große Tücher brauchte. Die Eingeborenen brachten immer mehr Kranke aus den Hütten. Lucy zeigte ihnen, dass sie sie reinigen sollten und flößte allen ihren Tee ein. ‚Das kann nicht schaden‘, dachte sie. ‚Zumindest hat er belebende Wirkung.‘ Bis spät in die Nacht hinein arbeiteten sie. Als der östliche Horizont sich rosa verfärbte, sank Lucy erschöpft nieder. Sie bettete ihren Kopf auf dem Stein vor ihrem Bildnis und schlief augenblicklich ein.

„Endlich wachst du auf, Tante Lucy.“ „Sally? Ihr seid zurückgekommen!“ „Aber natürlich. Wir gingen schon am frühen Abend in der Bucht vor Anker. Aber du warst unauffindbar. Weder am Strand noch bei den verlassenen Hütten konnten wir dich finden. Zum Glück nahm Doktor Edmond an der Suche Teil.“ „Doktor Edmond? Ist er hier? So viele Dorfbewohner sind krank, vielleicht kann er helfen.“ „Tantchen, er schaut schon nach ihnen. Doktor Edmond kennt das Dorf. Er meinte gestern, es sei zu gefährlich, im Dunkeln durch den Dschungel zu laufen, sonst wären wir schon abends hier gewesen.“

„Ah, Sie sind wach, Miss Arisson“, tönte eine tiefe, rollende Stimme. „Doktor Edmond, schön sie zu sehen!“ Lucy war erleichtert, dass sie nicht mehr allein unter den Eingeborenen weilen musste. Der Doktor zwinkerte lustig mit den Augen. „Heute Morgen kam uns Titon entgegen. Er hatte das Schiff in der Bucht gesehen. ‚Misa Rison. Unbu-kha!‘, schrie er freudestrahlend.“ Er gluckste in sich hinein. „Ich fragte: ‚Die Göttin Rison ist erschienen?‘ und gleichzeitig fragte ihre Nichte: ‚Sie haben Miss Arisson gefunden?'“

„Misa heißt Göttin?“ „Wahrhaftig. Und für diese einfachen Menschen sind Sie eine Göttin. Sie haben alles getan, was man bei dieser Krankheit tun kann. Und sie haben ihnen die Kunst des kochenden Wassers gebracht. Das Kraut scheint zudem eine fiebersenkende Wirkung zu haben.“ „Ich dachte, es sei Zitronenmelisse“, antwortete Lucy verlegen. „Wir können nicht mehr für sie tun. Gesund werden müssen sie alleine.“ „Doch, eine Sache noch“, bat Lucy. „Bitte beauftragen Sie den Koch des Schiffes, dass er einige Töpfe hinüberschickt – damit das Teekochen für die Eingeborenen nicht so kompliziert ist. Ich werde gerne für die Unkosten aufkommen.“

Späte Ernte

Juli 2006

Der Tod hockte auf dem Rücksitz und beobachtete Luisas Freude: Kleine rosa Perlen, die in ihrem Herz umhertollten. Sie sang lauthals zur Musik aus dem Radio. Ihr Freund fuhr im Takt Schlangenlinien, bis Luisa lachend gegen ihn plumste. Mit geschlossenen Augen drückte sie ihm einen Kuss halb auf die Wange, halb auf die Lippen.

Der Felsbrocken lag direkt hinter einer Kurve. Beim Versuch auszuweichen, glitt das Auto von der Fahrbahn und überschlug sich. Hoch aufgerichtet wartete der Tod, bereit zuzuschlagen. Gerade, als er die Sense niedersausen lassen wollte, öffnete Luisa die Augen und schaute ihn lächelnd an. Gebannt starrte er in ihr Gesicht, das sich nun vor Schmerz verzerrte. Nein – Er konnte Luisa nicht mitnehmen.


Weißes Leinen bedeckte ihren Körper. Blasse Wangen, blutleere Lippen. Es war das erste Mal, dass Laetitius einen Menschen genauer betrachtete. Regungslos lag sie da. Als sie die Augen aufschlug, zuckte sie zusammen.
Mühsam kroch die Stimme aus ihrer Kehle: „Wer sind Sie?“
Laetitius blickte sich um. Hatte jemand das Zimmer betreten? Nein. Sie konnte ihn sehen! Ihn, den Tod!
„Ich heiße Laetitius, das bedeutet ‚die Freude‘.“
„Gehen Sie fort, Sie machen mir Angst!“, krächzte Luisa.
Ihre Augen waren dunkel, fast ohne Widerschein. Sie hafteten auf ihm. Ein steter Blick, die Wimpern unbewegt.
Laetitius rührte sich nicht. Luisa drückte auf ein kleines Gerät, das neben ihrer Hand lag. Kurz darauf kam eine Krankenschwester.
„Sagen Sie dem Mann dort, dass er gehen soll“, bat Luisa.
Mit einem Seufzen huschte Laetitius aus dem Zimmer und verließ ihre Dimensionen.


Er brauchte Ruhe. Ein Bad in seinen Kraftquellen würde ihm gut tun. Über dem wabernden Nebelsee lag ein blauer Schimmer. Aber Laetitius konnte sich nicht darin auflösen.
„Luisa“, flüsterte er. Was für Augen!
Auf den schwarzen Ebenen über ihm schimmerten die Quellen anderer Tode. Der vertraute Anblick beruhigte sein Gemüt. Laetitius fasste einen Entschluss: Luisa sollte im Zustand höchster Freude ihre Welt verlassen. Er brauchte Zeit. Normalerweise passte er den erstbesten Freudenmoment ab. Ihr würde er ein besonderes Ende bereiten.

Ein scharfer Wind erhob sich. Der blaue Nebel am Seeufer wurde überlagert von Grau- und Schwarztönen. Nexus Stimme dröhnte durch die Stille: „Wie konntest du das tun! Wieso hast du nicht geerntet?“
Laetitius zog seine Gestalt zusammen, die grauschwarze Kraft zurückdrängend. Farbwolken wirbelten ineinander, leuchteten mal heller, mal saugten sie alles Licht auf.
„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.“ Seine Worte vibrierten vor Zorn, Blitze knisterten um Laetitius.
„Du hast wider unsere Natur gehandelt. In all den Aeonen ist das nicht vorgekommen.“
„Nein. Ich habe einen Augenblick zu lang gezögert. Die Freude in Luisas Herzen war erloschen, als ich zuschlagen wollte. Du weißt, dass ich der freudvolle Tod bin.“
„Ihre Zeit ist gekommen, führe sie heim!“ Nexus Mantel knallte im Wind.
„Ich entscheide, wann der rechte Augenblick da ist“, entgegnete Laetitius.
„Das Korn knickt, wenn die Ähren zu schwer werden.“ Mit diesen Worten wandte sich Nexus ab und verschwand.


Seit dem Unfall waren in Luisas Leben drei Monate vergangen. Die Glocken läuteten, als Laetitius wieder in ihre Dimension eintauchte. Rosenduft erfüllte die Luft, lachende Menschen in Festtagskleidung strömten in die Kirche. Laetitius setzte sich mitten unter die Leute. Luisa würde ihn in der Menge nicht wahrnehmen.
Die Orgel ertönte, ihr Klang schwang sich in Wellen bis zur Kuppel, als das Paar eintrat.
Der Anblick übertraf Laetitius Hoffnungen. Die Freudenperlen in Luisas Herz sprudelten über. Ein rosa Glanz umstrahlte sie. Ihr Glück breitete sich aus, tanzte im Reigen mit den Wellen der Hymne, die den Orgelpfeifen entströmte und die ganze Kirche begann zu schimmern. Die Perlen tropften in die Herzen der Gäste und erzeugten ein Feuerwerk des Glücks.
‚An die Arbeit‘, ermahnte sich Laetitius. Er konnte den Blick kaum abwenden. Fahrig griff er mit einer Hand zur Kette, an der ein schwerer Eisenring mit gut dreißig Kerzen hing. Er nestelte an dem Befestigungshaken. Dann trat er hinter Luisa, die gleich unter dem Kerzenhalter hindurch schreiten würde.
Der Haken quietschte und löste sich aus der Wand. Rasselnd fuhr der Leuchter in die Tiefe. Ihre Zeit war gekommen.
Doch statt die Sense zu heben, stürmte Laetitius nach vorn, riss Luisa mit sich und das Eisen krachte auf den Steinboden.
Benommen hielt er die Braut in den Armen. Ihre Wange streifte weich seinen Arm und ein Hauch von Frische umwehte ihn.
Erschrocken stieß Luisa ihn von sich. Helfende Hände hoben sie auf.
„Laetitius!“ Eine Falte krauste ihre Stirn, ihre Augen zu einer unausgesprochenen Frage zusammengezogen.
Er entfernte sich langsam, ohne seinen Blick abzuwenden, taub für die aufgeregten Rufe und blind für das Getümmel. In diesem Augenblick existierte für ihn nur Luisa.


Der Abend wandelte sich zur Nacht. Luisa löschte das Licht und kuschelte sich in ihre Kissen. Diesen Moment liebte Laetitius am meisten. Er genoss seine Vorfreude, während er von der Terrassentür aus beobachtete, wie Luisas Geist in die Dimensionen des Schlafes hinüberglitt: Ein kleines Mädchen, das aus ihrem Kopf heraustanzte und in einem Funkenregen verschwand. Jetzt konnte er es wagen, an ihr Bett zu treten. Lange betrachtete er das entspannte Gesicht, die leicht geöffneten Lippen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Langsam ließ er seine Hand sinken, bis sie auf dem warmen Bauch über ihrer Scham zum Liegen kam. Er spürte das leichte Heben und Senken ihres Atems, sog den Duft ihrer Haut tief in sich ein. Erregung und Übermut tönten in seinem Gemüt, begleitet von seiner sanften Stimme, die „Luisa! Geliebte!“ sang.

Ein Rascheln schreckte ihn auf. Ruckartig zog er die Hand zurück.
„Nexus! Was machst du hier?“
„Die Frage solltest du dir stellen.“
Laetitius schnaubte wütend.
„Seit drei Monaten folgst du ihr auf Schritt und Tritt. Erfülle deine Bestimmung!“, ermahnte ihn Nexus.
„Sie darf nicht sterben“, widersprach er.
„Wenn du es nicht tust, werde ich es zu Ende bringen.“ Nexus wandte sich Luisa zu und sprach: „In dir wächst eine Krankheit, die deine Eingeweide zerfrisst. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich dich holen!“ Dann löste sich seine Gestalt auf.
Laetitius rief: „Nein! ICH bin ihr Tod!“

Luisa schoss hoch, sofort hellwach.
„Raus!“, brüllte sie. Ihr Herz brannte schwarz und rot vor Angst und Wut.
„Raus! Und zwar sofort!“
Luisas Mann regte sich. „Was ist denn?“, grummelte er schlaftrunken.
„Gehen Sie, sonst rufe ich die Polizei“, kreischte sie.
Laetitius flog fast durch die Türen. Bevor er die Erde verließ, hörte er den Mann murren: „Was regst du dich auf? Da ist keiner.“


Er bebte. Seine Hände streiften das Lichtband, das ihn zu Luisa hinzog. Er versuchte, im blauen Schimmer seines Sees zu bleiben, aber der Sog wurde immer stärker. Er sehnte sich danach, ihr wieder in die Augen zu schauen, fürchtete sich vor dem, was ihn erwartete. Schließlich gab er nach und stand sofort in ihrem Zimmer. Nebelgrau troff die Verzweiflung von der Decke. Die Luft im Zimmer hemmte jede Bewegung, klebrig wie Brei. Aus dem Bad drang ein Schluchzen. Laetitius verbarg sich hinter einer Gardine, als Luisa in das Zimmer wankte, gestützt von der Hand ihres Mannes.
„Das Medikament wirkt nicht mehr.“ Ein Hustenanfall warf sie auf das Bett.
Laetitius starrte auf ihr Schlüsselbein, das unter der pergamentartigen Haut hervorspitzte.
„Dieser Spanner hat mich krank gemacht! Ständig ist er in der Nähe.“
Ihre Worte schnitten durch Laetitius Seele.
„Das bildest du dir ein, Luisa. Dich verfolgt niemand.“
„Ja, sag nur, ich bin verrückt.“ Orange Pfeile schossen aus ihren Augen. Der Hass leckte die letzte Kraft aus ihrem Körper. Ein Kokon aus Fäden der Einsamkeit umhüllte sie.
Laetitius ballte die Fäuste. ‚Fort von hier‘, dachte er. Gleichzeitig spürte er, dass er seiner Bestimmung nicht entrinnen konnte.


Fast ein Jahr beobachtete Laetitius Luisas Kampf gegen die Krankheit und die Qualen.
Schließlich trat er an ihr Bett. Ihr Blick wurde ruhig. Zum ersten Mal seit langem verschwand der fiebrige Glanz.
Sie rang nach Atem. „Wer bist du?“
„Ich bin der Tod“, antwortete Laetitius.
Luisa schüttelte fragend den Kopf.
„Ich sollte dich heim geleiten, aber ich konnte nicht. Deine Augen…“
Luisas Blick vertiefte sich in seinen. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Meine Augen gleichen deinen“, sagte sie.
Ein rosa Schimmer erhellte den grauen Flor, der ihr Herz verschleierte.
„Ich habe dir jemanden mitgebracht.“ Laetitius winkte eine alte Frau ans Bett.
„Großmutter!“
Die Alte streichelte sanft die Wange der Jungen. „Hab keine Angst! Es tut nicht weh.“
Der Tod hob die Sense. Als die Perlen der Wiedersehensfreude anfingen in Luisas Herz zu hüpfen, schlug er zu.

Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreiblust-Wettbewerbs Juli 2006 unter dem Thema „Stalking“. (Schreiblust-Verlag)

Begegnung der anderen Art

Juni 2006

Für Dr. Peter Plichta, der seinen Kindheitsträumen treu bleibt.
Mein Dank gilt Matt Ruff und Douglas Adams für ihre gnadenlose Phantasie, die mich inspirierte.

Zorga stand auf seiner Terrasse hoch über dem Atlantik und genoss die Abendstimmung. Der Himmel leuchtete rosa-blau über dem spiegelglatten Meer. Die ersten Sterne glitzerten.

Plötzlich zuckten Blitze am Himmel. Es sah so aus, als gingen Tausende von Sternschnuppen nieder. Riesige Haarsträhnen durchschnitten die Stratosphäre, glitten in elegantem Schwung zur Erde hinab und streiften den Ozean.

„Atemberaubend schön!“, war Zorgas erster Gedanke.
„Atemraubend“, dachte er, als ihn eine Flutwelle gegen seine Villa quetschte und baumdicke Haare das Dach abrasierten. Das zurückströmende Wasser riss ihn mit sich. Er schlitterte bis zum Geländer, an dem er benommen hängen blieb. Sein Hirn ratterte: „Überdimensionales Frauenhaar? Bedrohen Außerirdischen unseren Planeten?“

Ein glucksendes Piepsen ertönte. Zorga griff in die Brusttasche. Wasser tropfte aus dem Handy.
„Zorga!“, brüllte es ihm entgegen, kaum dass er die grüne Taste berührt hatte. „Ich bin gleich bei dir! Hast du DAAAS gesehen?“
Über ihm erschien ein Plichta-Mobil.
„Los! Komm schon!“, schrie es aus dem Handy und von oben gleichzeitig.
Ächzend rappelte er sich auf und erklomm die Leiter, die ins Innere des Raumgleiters führte. Eine Wespenkönigin auf der Suche nach einem Nistplatz schlüpfte unbemerkt mit durch die Luke.

Das Plichta-Mobil schoss in einem sanften Bogen ins Weltall.
„Ist es für diese Höhen ausgelegt?“, fragte Zorga mit einem Blick auf die Anzeigen. Er ließ sich neben Antonio in den Sessel plumpsen.
„Hab ’n bisschen dran rumgebastelt. Für ’n paar Stunden kann ich im luftleeren Raum navigieren.“
Zorga schwitzte. „Hast du eine Idee, was das war?“
„Nöh. Sah krass aus, wa? Gleich verlassen wir die Erdatmosphäre.“

Mit offenen Mündern starrten sie auf die riesigen Haarbüschel, die gemächlich an der Erde vorbeischwebten. Das Fellknäuel, das den Planeten touchiert hatte, qualmte. Eine langhaarige Mähne ohne Kopf und Körper. Zorga atmete als erster wieder: „Lebt das?“


Im Hochsicherheitstrakt der Internationalen Behörde für extraterristische Beobachtungen herrschte Aufregung.
„Die Flutwelle setzte mehrere Küstenstädte unter Wasser!“
„Haben wir es mit einer Lebensform zu tun?“
„Eindeutig organischen Ursprungs. Die Spektralanalyse der Flammenblitze ergaben einen hohen Kohlenstoffgehalt.“
„Chef! Wir können mittlerweile mehr als 1000 Objekte differenzieren. Die Ausdehnung eines dieser Wesen entspricht ungefähr dem Durchmesser des Mondes!“
„Stehen uns noch mehr Kollisionen bevor?“
„Nein. Sie entfernen sich wieder von der Erde. Sollen wir versuchen, Kontakt aufzunehmen?“
„Ja, setzt die ‚Banner‘ frei!“

Hoch über der Erde starteten die Mitarbeiter der Behörde eine kleine Sonde. Nachdem sie den Satellitengürtel verlassen hatte, entrollte sie ein langes, leuchtendes Banner mit einer Skizze des Sonnensystems und der Aufschrift: „Willkommen auf der Erde! Terra – Sol – Milchstraße“


Zorga lehnte sich in seinen Sessel zurück. „Lass uns heimfliegen!“
„Nach Hause?“, schimpfte Antonio. „Du hast wohl ’n Schuss wech! Ich will ran.“
Er fummelte an den Steuerungen und das Plichta-Mobil näherte sich einem Fellknäuel, das gerade die Erde passierte. Wie Tentakeln schwangen die Haare hin und her. Bald konnten sie Einzelheiten ausmachen.
„Willst du da rein?“ Zorgas Finger krallten sich in die Armlehnen.
„Plichta-Mobil auf Kollisionskurs mit Flugobjekt“, meldete das Bordsystem. „Korrigiere Kurs um drei Grad.“
„Was is’n hier unterwegs?“, wunderte sich Antonio.
Die Sonde mit dem kilometerlangen Banner tauchte auf dem Bildschirm auf.
„Ein Gruß von der IBeB“, grinste er.
„IBeB?“
„Internationale Behörde für extraterristische Beobachtungen.“
Sirenen fiepten, eine rote LED blinkte. „Längliche Objekte auf Kollisionskurs!“
„Schitt“, stöhnte Antonio.
Zorgas Augen folgten der Haarsträhne, die in ungeheurer Geschwindigkeit auf sie zuraste.
Sie machte einen leichten Schwenk Richtung Sonde und zertrümmerte sie. Von der Wucht abgelenkt, schwang das Willkommensbanner hoch und schnürte die Haare zu einem Zopf zusammen. Die Antikollisionskontrolle des Raumgleiters veranlasste einen Satz nach vorn und das Plichta-Mobil blieb in den feiner strukturierten Haaren weiter innen hängen.
Zorga rieb sich seinen schmerzenden Kopf. Sie wurden sanft hin und hergewiegt.
„Bruchlandung unbeschadet überstanden. Und draußen: Sauerstoffatmosphäre. Genial!“ Antonio schnappte sich eine Kettensäge, öffnete die Sicherheitsschlösser der Luke und kletterte hinaus.
„Antonio! Was soll denn das?“ Resigniert sank Zorga in sich zusammen.


Die Wespenkönigin wackelte mit ihren Fühlern. Ein besonderer Duft zog sie an. Sie krabbelte aus dem Raumgleiter und summte Richtung Zentrum des Fellbüschels. Die Haare wurden immer feiner und dichter. In einer kleinen Ausbuchtung weckten Wärme, Geruch und Umgebung in der Wespe einen Instinkt: Hier war der ideale Nistplatz.


„Los, hilf mir Zorga!“
Antonio reichte ihm die Kettensäge, unterm Arm ein paar baumstammdicke Stücke des Haarbüschels.
„Was willst du damit?“
„Ich kenne jemanden bei der IBeB – die kaufen mir das für ’n Batzen Geld ab.
„Wenn wir überhaupt nach Hause kommen“, antwortete Zorga. „Dein Bordsystem hat vorhin gemeldet, dass wir uns außerhalb der Maximaldistanz zur Erde befinden. Die Wahrscheinlichkeit für eine Rückkehr steht eins zu tausend.“
Antonio setzte sich an die Fahrzeugkontrollen. „Ich starte die Rückschubturbinen.“
Die Maschinen brüllten auf, aber das Plichta-Mobil bewegte sich keinen Millimeter.


Die Wespe schnitt mit ihren Zangen feine Härchen aus dem Fell und löste so einen Reflex aus. Haare und Muskeln zogen sich um das Insekt zusammen. Dieses griff in seiner Panik zur einzig verfügbaren Waffe. Sein Stachel bohrte sich in das empfindliche Innere der fremden Entität. Ein Zucken ging durch das Fellbüschel und breitete sich bis zu den Tentakeln aus.


„Wie Flimmerhärchen in der Lunge“, dachte Zorga, als sich plötzlich die Haare um sie in Wellen aufbäumten. Mit einem Knirschen löste sich das Plichta-Mobil aus dem Gewirr und wurde Richtung Erde geschleudert.
„Auf Heimatkurs“, meldete das Bordsystem. Das Schnurren der Maschinen tönte durch die Pilotenkanzel.
„Voraussichtliche Ankunft in drei Stunden, siebzehn Minuten und zweiundvierzig Sekunden.“


„Wir sind zu Hause!“, brummelte Antonio.
Müde stolperte Zorga zur Luke und kletterte in die Morgendämmerung hinaus.
Im fahlen Licht begutachtete er das zerstörte Dach seiner Villa. Etwas hatte sich seit ihrem Aufbruch verändert.
„Was ist das?“, wunderte er. „In einer Nacht kann dort kein Gras gewachsen sein!“
Als er Antonio zum Abschied zuwinkte, erstarrte er. Auf dem Plichta-Mobil spross ein dichter Pelz aus Haaren.

Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreiblust-Wettbewerbs Juni 2006 unter dem Thema „Haare“. (Schreiblust-Verlag)

Jehanne la Pucelle

Mai 2006

Die Bürste strich sanft durch ihr Haar. Wieder und wieder.
„Ist es nicht genug?“, fragte Jehanne.
„Sie müssen glänzen, sie müssen glänzen!“, sang die Bürste.
Die blonde Pracht schimmerte in der Sonne, eng geschmiegt an Haupt und Schultern.
Schwerter klirrten auf Schwertern. Der Helm aus Haar leuchtete über dem Schlachtgetümmel.
Ein schwirrendes Insekt löste sich aus der Gruppe der Feinde und schoss auf Jehanne zu. Mit einem spitzen Schnäbelchen durchbohrte es ihre Schulter. Eben dort, wo die Haare verwirrt waren. Erschreckt …

… riss sie die Augen auf. Mit klopfendem Herzen betastete sie die unversehrte Haut unter dem rauen Stoff ihres Leinenhemdes. Durch die Spalten des Fensterladens blitzte das erste Tageslicht und die Vögel stimmten ihren Morgengesang an. Jehanne reckte ihre schmerzenden Glieder und glitt auf den kalten Steinboden. Andächtig kniete sie nieder. Erinnerungsfetzen an den Traum wirbelten durch ihren Kopf. Was würde heute geschehen? „Maria, Mutter Gottes. Du bist voll der Gnade“, betete sie. Ihre Gedanken wurden klarer und ruhiger. Die Gegenwart der Gottesmutter erfüllte ihr Herz mit Zuversicht. Der Traum verblasste. Nur eines war wichtig: die Belagerung von Orléans aufzuheben, um dem Dauphin Charles die Salbung zum König zu ermöglichen.

Nachdem sie die Unterkleider angezogen hatte, öffnete Jehanne die Tür.
„Louis. Komm!“
Schüchtern trat der Page ein, den ihr der Hausherr, Jean de la Brosse, zur Verfügung gestellt hatte.
„Hilf mir mit der Rüstung!“
Der Junge schleppte den Harnisch herbei und legte ihn dem kaum älteren Mädchen an.
„Wie haltet Ihr das Gewicht aus?“, wunderte er sich.
Glucksende Laute stiegen in Jehanne auf. „Ich komme vom Land! Glaubst du, wir sitzen am Ofen und sticken Teppiche?“, lachte sie. „Bei uns müssen alle auf dem Feld und im Stall mit anpacken. Da bekommt eine Frau Kraft.“
Augenzwinkernd fügte sie hinzu: „Aber ich gestehe es. Alle Glieder schmerzen und ich weiß selber nicht, wie ich diesen Tag durchstehen soll. Wenn mich der Erzengel Michael nicht führte, würde ich sofort aufgeben.“

Niemand durfte merken, wie anstrengend die Kämpfe der letzten beiden Tage für Jehanne waren. Zusätzlich unterzog sie sich täglich den Waffenübungen ihres Begleiters Gilles de Rais.
„Du schlägst drauf, als wäre dein Schwert ein Stock und deine Feinde Kühe, die du in den Stall treibst“, neckte er sie.
Aber sie war unverletzlich. Gott behütete sie vor Unheil.
Die Halle lag im Obergeschoss des Hauptgebäudes. Jehanne straffte ihre Schultern und trat ein. Die Befehlshaber des Heeres stimmten gerade das Vorgehen der verschiedenen Einheiten ab.
„Heute wird die Festung Les Tourelles fallen!“, rief Jehanne ihnen zu.
Ehrerbietig neigten die Adeligen ihre Köpfe zum Gruß.
„Jehanne la Pucelle, einen guten Morgen!“ Jean de la Brosse ging mit langen Schritten auf sie zu und geleitete sie zu dem Tisch, auf dem die Karten der Brücke über die Loire und der Befestigungsanlagen um Orléans ausgebreitet lagen.
„Ihr werdet gemeinsam mit Florent d’Illiers die Loire überqueren und den Boulevard des Tourelles angreifen.“
„Es ist mir eine Ehre!“, antwortete Jehanne mit einem Kopfnicken in Florents Richtung.
„Gilles de Rais kämpft an Eurer Seite. Ihr müsst die Engländer ablenken. Diese beiden Brückenbögen sind zerstört. Zimmerleute werden versuchen, Übergänge zu schaffen, damit wir zum schwächsten Punkt der Festung gelangen: dem Tor auf der Brücke.“

Nachdem Jehanne die Pläne der Strategen studiert hatte, folgte sie einem Winken Gilles, der das Geschehen aus einer Fensternische beobachtete. „Das hast du wieder gut eingerichtet, de Rais! Immer an meiner Seite.“
„Von höchster Stelle befohlen“, lächelte der junge Mann.
„Von zweithöchster!“, antwortete Jehanne keck.
„Erzengel Michael schützt dich mit Gottes Schwert und ich behüte dich mit dem des Dauphins“, bestätigte Gilles.
Gedankenverloren schaute Jehanne aus dem Fenster. Sie zuckte zusammen, als Gilles plötzlich auf das Metall ihrer Rüstung tippte.
„Louis ist nicht sorgfältig genug. Du musst ihm auf die Finger hauen, wenn er seine Pflichten vernachlässigt.“
Irritiert betrachtete sie die Rostspuren auf dem Brustpanzer und der Traum vom frühen Morgen zog noch einmal an ihrem inneren Auge vorbei. Entsetzt erkannte sie seine Bedeutung. Ihr wurde übel. Gilles ergriff stützend ihren Arm.
„Was ist mit dir, Jehanne?“
Besorgt strich er über ihre Wange. Abwehrend schüttelte sie ihren Kopf und sagte laut: „Viel Arbeit steht uns bevor, mehr als bisher. Heute wird Blut meinen Leib über der Brust färben!“
Die Befehlshaber waren schon im Aufbruch. Bei ihren Worten erhob sich ein Raunen und nervöse Blicke streiften Jehanne.

Der Ansturm auf Les Tourelles kam nur zögerlich in Gang. Jehanne, die sonst rücksichtslos in der vordersten Reihe kämpfte, schaute immer wieder nach oben. War sie noch außer Reichweite der Armbrustschützen? Ihre Gedanken kreisten um den Traum. Zweifel nagten an ihr: Hatte Gott sie fallen lassen? Was war aus ihrer Unverletzlichkeit geworden? ‚Geheiligte Maria, wann habe ich gefehlt?‘ Sie starrte auf den Leib eines gefallenen Kampfgefährten. Ihr graute. Zum ersten Mal wurden ihr die Schrecken des Krieges bewusst. Warum jetzt? Sie versuchte, ihre alte Zuversicht zurück zu erlangen. ‚Ich muss meine Mission erfüllen! Ich bin auserwählt!‘ Aber da war ein neues Gefühl in ihrer Brust: Angst.

In einem ruhigen Augenblick näherte sich Gilles.
„Wo bleibst du? Du wirst gebraucht!“
Jehannes Pferd tänzelte nervös. Spürte es ihre Unruhe? Gilles Blicke wanderten zu den Arbeiten an der Brücke, die nicht weiter zu kommen schienen. Plötzlich öffnete sich eine Pforte in der Festungsmauer.
„Ausfall von links!“, schrie er.
Jehanne wendete ihr Pferd. Die Sonne, hoch am Himmel, blendete sie.
Der Erzengel Michael stand mit erhobener Klinge vor ihr und befahl: „Vertraue Gottes Plan!“
Sie preschte auf die Engländer zu. Schwert klirrte auf Schwert. Mit einem Streich fällte sie einen Mann. Der Pfeil einer Armbrust traf sie und riss sie rücklings vom Pferd.
„Jehanne!“
Gilles war sofort an ihrer Seite und wehrte die Hiebe zweier Feinde ab. Mit Hilfe eines Soldaten zog er die Verletzte aus dem Schlachtgetümmel.
„Lasst mich!“, kreischte Jehanne.
„Wenn du weiterkämpfst, verblutest du!“ Gilles Stimme klang rau. Er wählte fünf Männer aus, die das Mädchen fort trugen.

„Mon Dieu!“, sagte der Arzt und räusperte sich. „Mit oder ohne Alkohol?“
Jehanne starrte ihn verständnislos an.
„Möchtet Ihr Eure Schmerzen mit Alkohol betäuben?“
Sie schüttelte den Kopf. Achselzuckend griff der Arzt zum Messer und operierte die Pfeilspitze aus dem Fleisch.
Krampfhaft biss Jehanne ihre Zähne zusammen. Drei Männer hielten sie fest. Als die Schmerzen unerträglich wurden, fiel sie in Ohnmacht.

Voller Wut schlug sie um sich. Aber sie konnte keinen der Schmetterlinge erschlagen. Lachend tanzten sie um Jehanne herum und neckten sie. Da stand der Erzengel Michael vor ihr. Von der Spitze seines Schwertes troff Blut. Die Schmetterlinge setzten sich auf die Klinge und tranken davon, als sei es Nektar.
Zornig funkelte Jehanne ihren Ratgeber an. „Wieso?“
Wieder flatterte es. Zarte Flügel streiften ihre Stirn. Die Schmetterlinge echoten: „Wieso? Wieso denn nur?“
Michael ergriff Jehannes Schwert und zeichnete die fünf Kreuze nach, die in die Klinge eingraviert waren. „Jetzt kannst du deine Zweifel zerstreuen“, sagte er. Als sie die Waffe erhob, schwirrten die bunten Wesen davon.
Nun befand sie sich zwischen ihren Kampfgefährten vor den Toren der Festung.
„Ihre Waffen sind aus Holz und die Zimmersleute bauen eine Brücke aus Stroh!“, staunte Jehanne.
„Das Vertrauen in deine Mission ist nicht groß genug“, erklärte der Erzengel. „Sie brauchen ein Wunder, damit sich ihre Kraft voll entfaltet. Les Tourelles ist eine mächtige Feste. Bring deine Standarte zur Mauer.“

Gilles stand dicht über sie gebeugt, als sie die Augen aufschlug: „Jehanne!“
„Wie steht es?“, stöhnte sie.
„Sie denken an Rückzug.“
„Auf zur Festung!“ Mit einem Schmerzenslaut schwang sie sich hoch. „Wo ist meine Rüstung?“
„Jehanne“, antwortete Gilles vorwurfsvoll, „die Blutung ist gerade erst gestillt!“
„Dann ist es höchste Zeit!“ Zuversichtlich wie eh ergriff sie ihre Standarte, auf der die königlichen Lilien golden schimmerten. „Im Namen Gottes! Lasst es uns beenden. Für Charles, unseren zukünftigen König!“

Erhobenen Hauptes ritt Jehanne über die Brücke bis zu den zerstörten Steinbögen. Das Pochen in ihrer verletzten Schulter beachtete sie nicht.
„Die Übergänge sind noch nicht stabil“, warnten die Zimmersleute.
Jehanne sah den Erzengel Michael, der die Holzkonstruktion stützte. Ohne zu zögern trieb sie ihr Pferd über die schwankenden Balken bis zur Festung. Die Fahne hing schlaff an der Stange herab.
„Seht her, bis der Schweif meiner Standarte die Mauer berührt!“, rief sie kriegerisch.
Ein Windhauch spielte mit dem Stoff, hob ihn sanft hoch, so dass er über die Mauer strich.
„Nun lasst uns eintreten! Es liegt bei euch!“

Lächelnd hob Jehanne ihr Schwert. Die fünf Kreuze glitzerten in der untergehenden Sonne. Mit einem Schrei der Freude stürmten die Soldaten über die Planken auf die Festung ein. Das Tor gab nach und die Engländer fielen unter den Schwertern der heranbrausenden Flut.

Quellen:
Eschenhagen, Wieland: Personen der Weltgeschichte. Gütersloh: Chronik-Verl., 1995. ISBN 3-577-14510-2.
http://www.mairie-bonsecours.fr/jeanne_arc/histoire.html
http://www.stejeannedarc.net/
Musée Jeanne d’Arc de Rouen: www.jeanne-darc.com
The Trial of Jeanne d’Arc translated into english from the original Latin and French documents by W.P.Barrett: http://www.fordham.edu/halsall/sbook1m.html
Royal Financial Records Concerning Payments for Twenty-Seven Contingents in the Portion of Joan of Arc’s Army Which Arrived At Orléans on 4 May 1429. Joan of Arc: Primary Sources Series. ISSN: 1557-0355 (electronic format). ISBN: 1-60053-045-1 gefunden auf Historical Academy (Association) for Joan of Arc Studies http://primary-sources-series.joan-of-arc-studies.org/

Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreiblust-Wettbewerbs Mai 2006. (Schreiblust-Verlag)

Die Trommel

März 2006

Der Nordwind zerzauste Annas weiße Haare. „Der Duft Sibiriens“, dachte sie, als sie über die Berge ihrer Heimat Tuva blickte. Dann ging sie nach Hause, legte sich auf ihr Lager und starb.


Lydya klammerte sich mit aufgerissenen Augen an den Rock ihrer Mutter. Drei Schamanen standen um das Feuer und schlugen mit ihren Peitschen auf die Flammen. Das Kind wusste, dass dort der Geist ihrer Großmutter Anna war, deren Körper sie gestern bestattet hatten. Mutter hatte erklärt, dass die letzten Wünsche der verstorbenen Seele erfüllt werden mussten. „Sonst kommt sie zurück und nimmt einen von uns mit!“
Lydyas Kehle war wie zugeschnürt, ihr Herz raste. Die Flammen züngelten höher. Da sah sie die Augen, Großmutters Augen. Der glühende Blick lähmte sie und die Stimme der Alten hallte in ihren Kopf: „Du wirst in meine Hütte gehen und die Trommel nehmen. Reite auf den Schwingen des Vogels!“
„Mama!“, kreischte Lydya. Ihr war, als würde eine heiße Hand nach ihr greifen und sie ins Feuer ziehen. Mit lautem Schluchzen brach sie zusammen. Arme hoben sie sanft auf, als sie in dunkles Vergessen sank.


„Was sollen wir tun, Nikolai?“
Mutter saß neben dem Lager. Lydya war aus einem traumlosen Schlaf erwacht. Sie blieb still liegen, um zu horchen. Der Schamane antwortete: „Wir können nichts tun. Wir waren zu dritt, um Annas Macht zu zähmen. Keiner von uns hat den Ausbruch aus dem Feuer wahrgenommen. Erst als es zu spät war.“
„Und was ist mit Lydya? Wird sie wieder gesund?“
„Ein dichter Nebel liegt um ihre Seele.“
„Nikolai! Was hat Anna mit meinem Kind gemacht?“
„Ich weiß es nicht. Sie gab mir einen Auftrag. Ich soll das Kind zu ihrer Kate bringen.“
„Wieso Lydya, wieso meine kleine Lydya?“, schluchzte die Mutter.

Eine Gänsehaut lief Lydya über den Rücken und ließ sie erzittern. Ihre Brust krampfte sich zusammen, nur mit Mühe konnte sie die Tränen unterdrücken. Besorgt legte die Mutter ein Tuch getränkt mit kühlem Kräuterwasser auf die fiebernde Stirn und streichelte über die schweißfeuchten Haare.
Nikolai sprang herbei: „Lydya? Bist du wach?“
Das Kind öffnete die schweren Lider. Ruhig und ernst schaute der Schamane in ihre Augen.
„Du weißt es“, stellte er fest und verließ hastig die Hütte. „Was weiß ich?“, dachte Lydya verwirrt und barg ihren Kopf in Mutters Schoß.


Einige Tage später nahm Nikolai Lydya mit. Auf dem Weg erklärte er: „Deine Großmutter Anna war eine der mächtigsten Schamaninnen unserer Zeit. Was dich in ihrer Hütte erwartet, wird nicht einfach sein.“

Lydya stieß die niedrige Tür auf. Knarrend gab sie den Blick auf das Innere der Kate frei. Es roch nach kalter Asche und verbrannten Kräutern. Das Kind wagte nicht, den dämmrigen Raum zu betreten. Zitternd und immer noch fiebernd stand sie im Eingang und wartete. Der Gesang der Vögel verstummte. Die plötzliche Stille brachte ihr Herz zum Rasen. Da vernahm sie ein Wispern. Oder war es der Wind? Jetzt hörte sie es deutlicher, ein Raunen.

Wie in Zeitlupe setzte Lydya ihren Fuß über die Schwelle. Schwankend stützte sie sich am Türrahmen. Ihr Blick verschwamm. Und da waren sie wieder – die glühenden Augen ihrer Großmutter in den lodernden Flammen. Ein klagender Ton entsprang Lydyas Kehle. Sie wollte fort von hier, fliehen, vergessen. Aber eine fremde Macht zwang ihre Schritte weiter hinein. Lydyas Augen hefteten sich auf eine grobe Decke am Boden. Kam das Geräusch von dort? Langsam streckte sie ihre Hand aus, berührte den rauen Stoff. Sie griff fester zu und zog das Gewebe zu sich.

Da lag sie. Annas Trommel. Sie war groß und flach. Das Hirschleder glänzte. Schwarze und rote Linien zeichneten die Umrisse eines Vogels auf das Fell. Die Sehnen im Inneren waren zu einem Kreuz zusammengezogen und mit Leder umwickelt. Lydya erinnerte sich an ihre Großmutter: in der Rechten den Schlegel, der auf der Trommel in ihrer linken Hand zu tanzen schien. Der Blick verschleiert, abwesend, und doch alles durchdringend.

Zögernd griff Lydya nach dem Instrument. Als sie das Leder berührte, war ihr, als spürte sie tausend Stiche in den Fingerspitzen. Erschrocken zog sie die Hand zurück. Mühsam versuchte sie zu schlucken, ihr Mund war trocken.
Wieder wisperte etwas. Es war, als spreche die Trommel mit ihr. Lydya beugte sich näher und horchte.

Als Schritte hinter ihr erklangen, atmete sie erleichtert auf. Nikolai kam. „Du wirst trommeln!“, befahl er. „Ich begleite dich, so weit ich kann.“ Er schichtete Reisig in die Feuerstelle und entzündete sie. Dann warf er Kräuter hinein. Betäubender Rauch stieg auf, umhüllte Kind und Mann. Es kratzte in der Kehle, Lydya fühlte sich schwindelig und benommen. Starr schaute sie auf den Schlegel, der vor ihr lag. „Nimm sie jetzt!“, sagte Nikolai bestimmt.

Hastig griff sie zu, erwartete wieder die schmerzenden Stiche. Doch die Trommel fühlte sich glatt und kühl an. Mühsam umklammerte Lydya das Lederkreuz im Innern, konnte sie gerade mit einer Hand halten. Nikolai umfasste ihre Hände und wies sie ein. „Schlage mit dem Schlegel immer drei Schläge im Kreis, so wie die Sonne wandert.“
Bumm, bumm, bumm – bumm, bumm, bumm.
„Schneller! Fühle den Puls der Erde.“
Lydya schlug, erst langsam, dann schneller und schneller. Ihre Hände und Arme waren steif, die Schultern verkrampft.
Bumm, bumm, bumm – bumm, bumm, bumm.
Sie spürte es. Das Trommeln verband sich mit der Erde. Ihr Atem wurde zu Lydyas Atem. Das Herz der Erde schlug mit Lydyas Hand im Takt.
Bumm, bumm, bumm – bumm, bumm, bumm.


Vor dem Mädchen riss ein Abgrund auf und sie fiel – tief und tiefer. Sie schrie – laut und lauter. Da war Nikolai neben ihr. Er griff nach ihr. Sanft landeten sie am Ufer eines Flusses. Irritiert schaute sie ihn an. Sie spürte immer noch die Trommel in der Hand und den Boden der Kate unter ihren Füßen. Gleichzeitig war sie hier, an diesem Fluss.
„Deine Seele ist hier. Dein Körper verweilt in der mittleren Welt“, erklärte Nikolai. „Sie sind verbunden.“ Er wies über den Fluss.
„Am anderen Ufer ist die Stadt der Stille. Dort musst du hin. Du bist schutzlos, niemand kann dich begleiten, aber nimm dieses.“ Nikolai legte ihr ein Tuch über Kopf und Schultern. In den Stoff waren Perlen und Federn eingearbeitet.

Lydya blickte auf das Wasser. Sie war allein. Allein! Die Angst kroch ihren Nacken hoch. Wo war Nikolai? Seine warme Hand? Seine beruhigenden Worte?

Grau waberte Nebel über dem Fluss. Lydya beobachtete regungslos, wie sich aus den Schwaden Figuren formten, verzerrte Gesichter, stumme zum Schrei aufgerissene Münder. Wie sollte sie über diesen Strom kommen, vorbei an den Schreckensbildern? Sie kamen näher, deutlich sah das Kind, wie sich Hände nach ihr ausstreckten. Ihre Berührung war klamm und kalt. Lydya sank kraftlos in die Hocke und umklammerte Schutz suchend ihre Beine.

„Was soll ich tun?“, schrie sie in Gedanken. Tränen rannen ihre Wangen herab. Leise begann sie zu summen, eine Melodie, tröstlich, sie kam aus einer fernen Welt zu ihr. Lydya versuchte sich zu erinnern. Die Töne vibrierten in ihrem Körper. „Mutter!“, dachte sie. Und nun wusste sie es wieder. Das Schlaflied ihrer Kindheit schenkte Geborgenheit und Wärme.

Die Nebelgestalten wichen zurück, auf der anderen Seite stand ihre Großmutter. Sie hielt ein Kind an der Hand, ein Kind in Lydyas Alter. „Großmutter Anna!“, rief Lydya, „was soll ich tun?“ Leise vernahm sie die Antwort: „Überwinde deine Ängste! Reite auf den Schwingen des Vogels!“

Da wurde der Nebel wieder dichter. Die wallenden Gestalten gewannen an Kraft, zupften an ihrem Gewand. Kalte Klauen zerrten an ihr. Lydyas Füße berührten das Wasser. Sofort spürte sie, wie die Lebenskraft aus ihr heraus rann und weggespült wurde. „Nein!“ Erschrocken sprang sie zurück, versuchte die Schemen zu vertreiben, aber ihre Hände durchteilten nur die feuchte Luft.

„Überwinde deine Ängste!“ hatte Großmutter gesagt. Lydya begann wieder zu summen. Die Kälte wich, sie wurde ruhiger und ihre Stimme kräftiger. Der Nebel lichtete sich, die Gestalten verloren an Form. Lydya breitete ihre Arme aus. Das Tuch auf ihren Schultern rauschte und sie sang in der Melodie ihrer Kindheit: „Ich reite auf den Schwingen des Vogels.“ Lydyas Arme waren Flügel, sie spürte den Wind in den Federn. Entstand der Wind in ihr? Mit kurzen Schlägen hob sie sich in die Luft, den Fluss unter sich lassend. Die Nebelfetzen versuchten nach ihr zu greifen, konnten sie aber nicht mehr erreichen.

„Großmutter!“ Lydya sank in Annas Umarmung. Erleichtert schaute sie auf das Mädchen, das neben ihrer Großmutter stand. „Aber das bin ja ich?“
Anna führte die Hände der beiden Kinder zusammen und im Kreise tanzend verschmolzen sie und wurden Eins.
„Mit diesem Teil deiner Seele übertrage ich dir meine Macht, nutze sie weise!“ Lächelnd strich Anna ihrer Enkelin über den Kopf. „Nikolai wird dir ein guter Lehrer sein. Nun geh, Tochter des Falken!“

Gedankenverloren strich Lydya über das federnbesetzte Tuch. Dann breitete sie ihre Arme aus und stieg hoch und höher, der Sonne entgegen. Die letzten Reste der Angst fielen von ihr ab. Laut jubilierend erwachte sie in Nikolais Schoß.

Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreiblust-Wettbewerbs März 2006. (Schreiblust-Verlag)

Der letzte Termin

Februar 2006

Wie ein Blitz zuckte der Schmerz durch ihren Kopf. Die Finger krampften sich um die Tischplatte, sie konnte sich aber nicht halten. Mit aufgerissenen Augen sackte Resi in sich zusammen, ihr Kinn knallte auf die Kante, bevor der Körper unter den Tisch rutschte.

Als sie aus der Bewusstlosigkeit auftauchte, war ihr erster Gedanke: „Der Anwaltstermin!“ Sie fühlte sich zerschlagen, Wangen und Kinn schmerzten, ihr Kopf schien zu bersten. Wo bin ich? Orientierungslos blickte sie auf das Tischbein neben sich und die Blutflecken, die den Boden sprenkelten. Sie versuchte den Kopf zu drehen, einen Laut von sich zu geben, aber nur ein leises Wimmern entschlüpfte ihren Lippen. Die Zunge klebte wie ein fremder Gegenstand am Gaumen und erschwerte ihr das Atmen. Was war geschehen?

„Ich muss aufstehen! Sonst komme ich zu spät!“ Resi versuchte sich aufzurichten. Sie hatte keine Kontrolle, ihre Körper reagierte nicht. Furcht schnürte ihr den Hals zu. Erschüttert lag sie da, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, sich der Außenwelt bemerkbar zu machen. Am Rande ihres Blickfeldes konnte sie die Uhr erkennen, der Stundenzeiger war über die Zehn hinaus gerückt. So lange hatte sie hier gelegen? Die Zeit, ihr Termin verstrichen. Resi wollte heute ihr neues Testament unterschreiben, ihren Neffen enterben. Wut stieg in ihr auf und der Wunsch, zu leben, um diesen letzten formalen Akt durchzuführen.

Die Schmerzen wurden wieder stärker. Tausende von Nadeln schienen sich ins Gehirn zu bohren. Ihr war schwindelig und übel. Als sich ein schwarzer Nebel über ihre Augen legte, kamen die Erinnerungen.


Der Fahrradlenker ragte unter dem Auto hervor. Nie würde Resi diesen Anblick vergessen. Sie zögerte, atmete tief ein, dann schritt sie weiter. Da lag Anja, ihre geliebte Schwester, mit zertrümmertem Schädel. Torsten kniete neben seiner Mutter, seine Schultern zuckten vor Schmerz und Trauer. Resi nahm ihren Neffen sanft in den Arm und still beobachteten sie, wie der Körper der Toten in einen Leichenwagen gehoben und weggefahren wurde. „Wir schaffen das schon, ich werde dir helfen, Torsten.“ Ihre Worte klangen eher unsicher als zuversichtlich.


Resis Bewusstsein wurde wieder klarer. Sie schmeckte Blut, versuchte die verkrampft aufeinander gepressten Zähne zu lösen, die zerbissene Wange zu schonen. Irgendwie musste sie sich bemerkbar machen. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, rutschte sie in Richtung Flur. Schwerstarbeit. Erschöpft hielt sie nach kurzer Zeit inne.


„Torsten, hast du die Unterlagen von deinem Erbkonto?“ Aufgeregt trat sie in das Zimmer des Jungen. Er war nach dem Tod seiner Mutter zu ihr gezogen, sie hatte Anjas Wohnung vermietet. Grummelnd nuschelte Torsten: „Das ist mein Geld.“ Wütend knallte Resi ihrem Neffen die neuesten Kontoauszüge auf den Tisch. „Natürlich. Und wo ist es hin?“ Starr blickte er nach unten. „Mit dem Geld wollten wir dein Studium finanzieren“, erzürnte sich Resi. Immer noch Schweigen. „Ich will jetzt wissen, was du damit gemacht hast!“ „Es ist weg.“ „Weg?“, schrie sie. In ihr kochte es. Wütend funkelte Torsten sie an: „Ja, weg! Ich habe spekuliert. Und es hat nicht funktioniert! Immerhin ist es mein Geld.“ „Du lebst auf meine Kosten! Wenn du meinst, du könntest machen, was du willst, dann kümmere dich um dich selbst. Sobald Anjas Wohnung frei ist, fliegst du hier raus!“

Später bereute Resi den Streit, aber erst als Torsten Larissa kennenlernte, verbesserte sich ihre Beziehung. „Tantchen, wir wollen heiraten“, eröffnete er eines Tages das Gespräch. „Larissa ist schwanger!“ Seine Augen leuchteten. „Meinen Glückwunsch!“, freute sich Resi. „Kann ich euch irgendwie unter die Arme greifen?“ Zum ersten Mal erwachte das Gefühl der Zusammengehörigkeit. „Tantchen“ wurde zur Ersatzoma für die kleine Leonie. Sie übernahm diese Rolle gern und unterstützte die drei.


Resis Brust verkrampfte sich bei dem Versuch, die Tränen zu unterdrücken. „Meine süße Leonie! Werde ich noch einmal die Chance haben, dich zu sehen? “ Mühsam versuchte sie, den Speichel zu schlucken, der aus ihren Mundwinkeln tropfte. „Ich muss weiter, nur bis zum Telefon.“ Als sie sich vorwärts schob, spürte sie, wie die Lebenskraft unaufhaltsam aus ihr hinausströmte. Würde sie durchhalten, bis Hilfe kam?


Resi erinnerte sich noch gut an den Abend, als sie das laute Weinen Leonies im Treppenhaus hörte. Erschrocken öffnete sie die Tür und Larissa fiel ihr schluchzend in die Arme: „Ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen soll.“ Resi führte die beiden ins Wohnzimmer und versorgte sie mit Tee und Kakao. „Papa hat mich gehauen“, klagte Leonie, „ich war doch ganz lieb!“ Nachdem sie sich etwas beruhigt hatten, brachte Resi die Kleine ins Bett. „Du darfst heute Nacht bei mir schlafen, mein Schatz!“

„Ich lasse mich scheiden!“ Larissa umklammerte die Teetasse. „Geht es euch so schlecht? Ist da gar kein Vertrauen mehr?“ „Vertrauen!“, stieß Larissa verächtlich aus. „Er hat unsere gesamten Rücklagen verspekuliert. Heimlich. Heute bin ich zufällig über eine Mail gestolpert, sonst hätte ich es gar nicht bemerkt.“ „Und Leonie? Was war da?“, fragte Resi besorgt. „Ach das. Ja, sie hat eine von ihm gefangen, nichts Schlimmes. Sie kam ihm zufällig in die Quere, als ich ihn zur Rede gestellt habe. Torsten war sauer. Auch nichts Neues. Miteinander reden können wir schon lange nicht mehr. Er hat richtig gerast: ‚Raus! Verschwindet! Ich kann dieses Geplärre nicht mehr hören!‘ Ich hab‘ mir Leonie geschnappt und bin zu dir gefahren.“


Aus der Wut auf ihren Neffen schöpfte Resi neue Kraft. „Ich will nicht sterben! Ich will nicht, dass dieser verfluchte Kerl mein Geld verschleudert“, dachte sie. Verzweifelt schaute sie auf das Telefon, das noch Meilen entfernt zu sein schien. Sie rutschte weiter, bekam endlich das Kabel in die Hand und zog. Mit lautem Klirren fiel das Telefon zu ihr herunter. Doch ihr Bewusstsein schwand wieder und sie fiel in einen traumartigen Zustand.


Resis Schwester Anja stand neben ihr. Sie schauten sich an. Tränen waren in beider Augen und sie hörten ihre Mutter schimpfen: „Wie konntest du Anjas Puppe kaputt machen? Dafür bekommt sie jetzt deine!“ Resi versuchte zu erklären: „Ich musste doch wissen, wie es innen drin aussieht.“ „Ungehöriges Kind! Geh in dein Zimmer.“

„Anja, ich musste es einfach wissen! Ich konnte doch nicht meine eigene, liebe Isabell aufschneiden. Du hast deine Puppe nie angesehen.“ „Ich weiß.“ „Mama hat gar nicht versucht, mich zu verstehen.“ „Hast du je versucht, Torsten zu verstehen?“ „Das ist doch etwas ganz anderes!“ Aber es war nichts anderes, das wusste Resi. „Steh auf, Resi!“ „Ich kann nicht! Schau, wie schlecht es mir geht.“ „Lass deinen Körper sein, es ist Zeit! Er hilft dir nicht mehr weiter.“


Alle Wut und Anspannung fielen von Resi ab. Der Weg lag klar vor ihr. Sie drehte sich ein letztes Mal um und sah, wie Leonie fröhlich um ihren Vater herum hüpfte. „Wie ein Flummi“, dachte Resi und dann ging sie Hand in Hand mit ihrer Schwester an einen anderen Ort.

Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreiblust-Wettbewerbs Februar 2006. (Schreiblust-Verlag)