Januar 2006
Anette stellte den Zeitungsständer vor ihre Buchhandlung und überflog die Überschriften auf der Titelseite des „Weiracher Anzeiger“.
Montag, 15. Juli 1996 – Kohl und Kinkel verhandeln mit Russland wegen Beutekunst – Erhöhung der Krankenkassen-Beiträge geplant – Lokales: Aussichtsplattform am Oderdamm eröffnet
In diesem Augenblick trat Ivonne grüßend hinzu.
„Hallo. So früh unterwegs?“, fragte Anette.
„Ich war auf dem Oderdamm walken und möchte ein Buch kaufen.“
Als sie hinein gehen wollten, erregte eine Frau auf dem Marktplatz vor der Buchhandlung Anettes Aufmerksamkeit. Sie hielt in der Hand eine große, flache Trommel, an deren Innenseite bunte Bänder hingen. Eine kreisrunde Metallplatte baumelte vor ihrer Brust und die Fransen am Stirnband überdeckten die Augen. „Schau mal, Ivonne, kennst du die?“ Ihre Freundin verneinte. Die Frau wandte sich der Sonne zu und hob das Instrument hoch über den Kopf, bis der Körper zwischen der Sonne und der Erde aufgespannt zu sein schien. Nach kurzem Innehalten begann sie mit einem Schlegel schnell und monoton zu trommeln und summend im Kreis zu tanzen.
„Was soll denn der Auftritt? Dieser Lärm geht eindeutig zu weit.“
Ivonne nickte zustimmend: „Vielleicht ein übriggebliebener Hippie aus den Sechzigern, steht bestimmt unter Drogen!“
„Oder der Psychiatrie entlaufen“, witzelte Anette.
Das Trommeln drang durch die geöffnete Ladentür und lenkte sie von der Arbeit ab. Plötzlich begleitete ein lautes Plätschern und Rauschen die eintönigen Klänge. Es regnete in Strömen. Fluchend rannte Anette hinaus, um ihre Zeitungen in Sicherheit zu bringen. Zu spät. Mitten auf dem Platz tanzte die durchnässte Frau, während zwei Polizisten auf sie einredeten.
„Bitte, können Sie mir weiterhelfen?“
„Natürlich!“ Die Buchhändlerin stutzte, als sie in der Kundin die Trommlerin erkannte. „Was wünschen Sie?“
„Ich möchte das Buch ‚Seelenfrieden‘ von Ingold Artheuser haben.“
„Morgen Mittag müsste es da sein.“
„Danke!“
Am nächsten Morgen schaute Anette argwöhnisch in die Sonne. Ob sie dem Wetter heute trauen konnte? Sie stellte ihren Zeitungsständer vor die Tür und las:
Dienstag, 16. Juli 1996 – Handelskonflikt zwischen EU und den USA – Großauftrag für Airbus – Lokales: Sintflutartiger Regen setzt Keller in Weirach unter Wasser.
„Und meine Zeitungen!“
Beim Auspacken der Bücherlieferung fiel ihr „Seelenfrieden“ von Ingold Artheuser in die Hand. Sie blätterte in dem Buch hin und her. „Schamanische Reise, Seelenrückholung, Naturgeister… Was soll das sein? So ein Humbug!“ Anette runzelte die Stirn: „Die Frau – der Regen, hat das miteinander zu tun? Nein, der unerwartete Regenschauer war Zufall.“ Da hörte sie wieder das eintönige Trommeln und den Singsang.
Vom Fenster aus beobachtete sie die Frau auf dem Marktplatz. Schaulustige sammelten sich um die Tänzerin. Der aufgeregte Besitzer vom Uhrengeschäft gegenüber stürmte lauthals schimpfend in seine Ladenräume. Kopfschütteln und Tuscheln.
„Kann die mal aufhören damit?“ Mürrisch langte Anette zum Telefonhörer und wählte die Nummer vom Ordnungsamt. „Mitten auf dem Marktplatz steht eine Verrückte. Können Sie dieser Frau nicht das Trommeln verbieten? Sie verjagt noch alle Kunden!“
Und dann ging es wieder los, erst ein, zwei Tropfen, denen ein kräftiger Platzregen folgte. Diesmal brachte Anette ihre Zeitungen rechtzeitig ins Trockene. Die Frau trommelte und tanzte unermüdlich weiter, die Passanten flüchteten. Heute schienen die zwei Polizisten nicht mehr so freundlich zu sein. Sie unterbrachen das Schauspiel und nahmen die Frau mit.
Mittwoch, 17. Juli 1996 – Anschlag auf türkische Moschee – EU-Kommission weist BSE-Vorwürfe zurück – Lokales: Regenfälle legen Unterspülungen des Oderdamms frei.
Hastig blätterte Anette weiter zum Lokalteil. „Die heftigen Regenfälle der letzten beiden Tage spülten einen Teil der Grasabdeckung vom Oderdamm fort. Dabei wurden große Defekte sichtbar. Der Stadtrat wird sich heute mit der dringend notwendigen Ausbesserung des Dammes auseinandersetzen. Bei Hochwasser wäre die gesamte Innenstadt gefährdet.“
Noch versunken in die Bilder des Oderdamms, gewahrte Anette nicht, dass die Trommlerin plötzlich vor ihr stand: „Ich wollte mein Buch abholen.“ „Ah, ja, … ihr Buch!“ Angespannt ging die Buchhändlerin zum Kundenregal in den Laden. Diese Frau verunsicherte sie, doch sie überwand sich und fragte beiläufig: „Was sollten diese Auftritte gestern und vorgestern?“
Die Kundin antwortete freundlich: „Die Geister haben mir empfohlen, in Weirach zu trommeln.“
„Geister? Darauf hören Sie?“
„Natürlich! Ich konnte damit schon vielen Menschen helfen“, antwortete die Fremde ruhig.
„Einbildung! Woher wollen Sie wissen, dass ihr Trommeln Wirkung hat?“ Anettes Stimme klang schrill.
„Es hat geregnet!“
„Das entbehrt jeglicher Logik. Sie spinnen!“
„Auch wenn Sie anderer Meinung sind, erbitte ich mir mehr Respekt. Für mich ist das Trommeln mein Leben, meine Berufung.“ Ohne sich zu verabschieden verließ die Frau den Laden.
Ärgerlich rief Anette: „Sie haben ihr Buch vergessen!“
Freitag, 25. Juli 1997 – Zweiter Deichbruch im Hochwassergebiet – Bundespräsident Herzog trifft Präsident Clinton im weißen Haus – Lokales: Nach einjähriger Bauphase – Fertigstellung des Oderdamms war gerade rechtzeitig
Anette hatte vor der Arbeit einen Abstecher an die Oder gemacht, um sich die Flut anzuschauen. Bei den Arbeiten am Damm waren im Laufe des vergangenen Jahres größere Schäden als erwartet aufgedeckt und repariert worden. Jetzt stand der Pegel kurz unter der Deichkrone. Dieser kleine Erdwall war fast ein Nichts verglichen mit den Wassermassen, die vorbeiströmten.
Plötzlich schossen ihr Erinnerungen an die zwei Regentage vor einem Jahr in den Kopf. „Hatte die Frau mit der Trommel doch Recht mit ihren Geistern?“ Sie versuchte, den Gedanken beiseite zu schieben. Ohne Erfolg. In der Mittagspause griff sie nach einem Ladenhüter und begann zu lesen: „Seelenfrieden“ von Ingold Artheuser.