Januar 2015
Es ist ein kalter, klarer Morgen. Ich stehe am Bahnhof und starre auf das Wasser der Weser, über die Gleise hinweg, den Bahndamm hinunter, dahinter die befestigte Mauer, unter der sie vorbeifließt. Weiße Eisschollen, rund wie Tortenböden, treiben an mir vorbei.
Eisschollen? Ich habe noch nie Eisschollen auf der Weser gesehen. Mühsam kramt mein Hirn in den Erinnerungen, sucht einen Grund dafür, dass das Wasser noch nie Eisschollen trug, bis es mir dämmert. Das Atomkraftwerk – solange das Atomkraftwerk lief, wurde das Kühlwasser in den Fluss geleitet. Da konnten sich die Eisschollen nicht halten, sie schmolzen, bevor sie Höxter erreichten. Ich höre ein Rauschen. Die Sonne spielt mit den glitzerden Kristallen und krönt die weißen Tortenböden. Zwei Schwäne gleiten gemächlich vorbei. Das Schwingen ihrer Flügel erfüllt die Luft. Sonst herrscht Schweigen.
Meine Gedanken begleiten die Schwäne. Sie spannen ihre Flügel aus und schweben über das Wasser hin, den Strom hinauf. Unter ihnen die Schollen, über ihnen ein blauer unberührter Himmel.
Ich schwinge mich auf und schließe mich ihnen an. Neben mir spüre ich ihr gleichmäßiges ruhiges Schlagen, ihre Anmut in der Luft. Und ich erzähle ihnen meine Geschichte, von den Tagen, als ich noch ein Schulkind war, von den Dampfern, die die Weser hoch und runter fuhren, von den Ruderbooten und den kalten und den warmen Zeiten.
Ich erzähle ihnen, wie ich Höxter verließ, um zu studieren, wie ich einen Freund fand und eine Familie gründete. Ich singe von glücklichen und traurigen Tagen und die Schwäne stimmen ein in meinen Gesang, begleiten mich durch die Zeit und durch den Raum.
Es war ein langes Leben, und hier, am Ort meiner Kindheit schwebe ich nun über das Wasser hinweg. Meine Seele winkt ein letztes Mal und eilt in Richtung Sonne. Weit unten klagen die Schwäne – ein Gruß bevor ich die Welt verlasse.