Juli 2006
Der Tod hockte auf dem Rücksitz und beobachtete Luisas Freude: Kleine rosa Perlen, die in ihrem Herz umhertollten. Sie sang lauthals zur Musik aus dem Radio. Ihr Freund fuhr im Takt Schlangenlinien, bis Luisa lachend gegen ihn plumste. Mit geschlossenen Augen drückte sie ihm einen Kuss halb auf die Wange, halb auf die Lippen.
Der Felsbrocken lag direkt hinter einer Kurve. Beim Versuch auszuweichen, glitt das Auto von der Fahrbahn und überschlug sich. Hoch aufgerichtet wartete der Tod, bereit zuzuschlagen. Gerade, als er die Sense niedersausen lassen wollte, öffnete Luisa die Augen und schaute ihn lächelnd an. Gebannt starrte er in ihr Gesicht, das sich nun vor Schmerz verzerrte. Nein – Er konnte Luisa nicht mitnehmen.
Weißes Leinen bedeckte ihren Körper. Blasse Wangen, blutleere Lippen. Es war das erste Mal, dass Laetitius einen Menschen genauer betrachtete. Regungslos lag sie da. Als sie die Augen aufschlug, zuckte sie zusammen.
Mühsam kroch die Stimme aus ihrer Kehle: „Wer sind Sie?“
Laetitius blickte sich um. Hatte jemand das Zimmer betreten? Nein. Sie konnte ihn sehen! Ihn, den Tod!
„Ich heiße Laetitius, das bedeutet ‚die Freude‘.“
„Gehen Sie fort, Sie machen mir Angst!“, krächzte Luisa.
Ihre Augen waren dunkel, fast ohne Widerschein. Sie hafteten auf ihm. Ein steter Blick, die Wimpern unbewegt.
Laetitius rührte sich nicht. Luisa drückte auf ein kleines Gerät, das neben ihrer Hand lag. Kurz darauf kam eine Krankenschwester.
„Sagen Sie dem Mann dort, dass er gehen soll“, bat Luisa.
Mit einem Seufzen huschte Laetitius aus dem Zimmer und verließ ihre Dimensionen.
Er brauchte Ruhe. Ein Bad in seinen Kraftquellen würde ihm gut tun. Über dem wabernden Nebelsee lag ein blauer Schimmer. Aber Laetitius konnte sich nicht darin auflösen.
„Luisa“, flüsterte er. Was für Augen!
Auf den schwarzen Ebenen über ihm schimmerten die Quellen anderer Tode. Der vertraute Anblick beruhigte sein Gemüt. Laetitius fasste einen Entschluss: Luisa sollte im Zustand höchster Freude ihre Welt verlassen. Er brauchte Zeit. Normalerweise passte er den erstbesten Freudenmoment ab. Ihr würde er ein besonderes Ende bereiten.
Ein scharfer Wind erhob sich. Der blaue Nebel am Seeufer wurde überlagert von Grau- und Schwarztönen. Nexus Stimme dröhnte durch die Stille: „Wie konntest du das tun! Wieso hast du nicht geerntet?“
Laetitius zog seine Gestalt zusammen, die grauschwarze Kraft zurückdrängend. Farbwolken wirbelten ineinander, leuchteten mal heller, mal saugten sie alles Licht auf.
„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.“ Seine Worte vibrierten vor Zorn, Blitze knisterten um Laetitius.
„Du hast wider unsere Natur gehandelt. In all den Aeonen ist das nicht vorgekommen.“
„Nein. Ich habe einen Augenblick zu lang gezögert. Die Freude in Luisas Herzen war erloschen, als ich zuschlagen wollte. Du weißt, dass ich der freudvolle Tod bin.“
„Ihre Zeit ist gekommen, führe sie heim!“ Nexus Mantel knallte im Wind.
„Ich entscheide, wann der rechte Augenblick da ist“, entgegnete Laetitius.
„Das Korn knickt, wenn die Ähren zu schwer werden.“ Mit diesen Worten wandte sich Nexus ab und verschwand.
Seit dem Unfall waren in Luisas Leben drei Monate vergangen. Die Glocken läuteten, als Laetitius wieder in ihre Dimension eintauchte. Rosenduft erfüllte die Luft, lachende Menschen in Festtagskleidung strömten in die Kirche. Laetitius setzte sich mitten unter die Leute. Luisa würde ihn in der Menge nicht wahrnehmen.
Die Orgel ertönte, ihr Klang schwang sich in Wellen bis zur Kuppel, als das Paar eintrat.
Der Anblick übertraf Laetitius Hoffnungen. Die Freudenperlen in Luisas Herz sprudelten über. Ein rosa Glanz umstrahlte sie. Ihr Glück breitete sich aus, tanzte im Reigen mit den Wellen der Hymne, die den Orgelpfeifen entströmte und die ganze Kirche begann zu schimmern. Die Perlen tropften in die Herzen der Gäste und erzeugten ein Feuerwerk des Glücks.
‚An die Arbeit‘, ermahnte sich Laetitius. Er konnte den Blick kaum abwenden. Fahrig griff er mit einer Hand zur Kette, an der ein schwerer Eisenring mit gut dreißig Kerzen hing. Er nestelte an dem Befestigungshaken. Dann trat er hinter Luisa, die gleich unter dem Kerzenhalter hindurch schreiten würde.
Der Haken quietschte und löste sich aus der Wand. Rasselnd fuhr der Leuchter in die Tiefe. Ihre Zeit war gekommen.
Doch statt die Sense zu heben, stürmte Laetitius nach vorn, riss Luisa mit sich und das Eisen krachte auf den Steinboden.
Benommen hielt er die Braut in den Armen. Ihre Wange streifte weich seinen Arm und ein Hauch von Frische umwehte ihn.
Erschrocken stieß Luisa ihn von sich. Helfende Hände hoben sie auf.
„Laetitius!“ Eine Falte krauste ihre Stirn, ihre Augen zu einer unausgesprochenen Frage zusammengezogen.
Er entfernte sich langsam, ohne seinen Blick abzuwenden, taub für die aufgeregten Rufe und blind für das Getümmel. In diesem Augenblick existierte für ihn nur Luisa.
Der Abend wandelte sich zur Nacht. Luisa löschte das Licht und kuschelte sich in ihre Kissen. Diesen Moment liebte Laetitius am meisten. Er genoss seine Vorfreude, während er von der Terrassentür aus beobachtete, wie Luisas Geist in die Dimensionen des Schlafes hinüberglitt: Ein kleines Mädchen, das aus ihrem Kopf heraustanzte und in einem Funkenregen verschwand. Jetzt konnte er es wagen, an ihr Bett zu treten. Lange betrachtete er das entspannte Gesicht, die leicht geöffneten Lippen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Langsam ließ er seine Hand sinken, bis sie auf dem warmen Bauch über ihrer Scham zum Liegen kam. Er spürte das leichte Heben und Senken ihres Atems, sog den Duft ihrer Haut tief in sich ein. Erregung und Übermut tönten in seinem Gemüt, begleitet von seiner sanften Stimme, die „Luisa! Geliebte!“ sang.
Ein Rascheln schreckte ihn auf. Ruckartig zog er die Hand zurück.
„Nexus! Was machst du hier?“
„Die Frage solltest du dir stellen.“
Laetitius schnaubte wütend.
„Seit drei Monaten folgst du ihr auf Schritt und Tritt. Erfülle deine Bestimmung!“, ermahnte ihn Nexus.
„Sie darf nicht sterben“, widersprach er.
„Wenn du es nicht tust, werde ich es zu Ende bringen.“ Nexus wandte sich Luisa zu und sprach: „In dir wächst eine Krankheit, die deine Eingeweide zerfrisst. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich dich holen!“ Dann löste sich seine Gestalt auf.
Laetitius rief: „Nein! ICH bin ihr Tod!“
Luisa schoss hoch, sofort hellwach.
„Raus!“, brüllte sie. Ihr Herz brannte schwarz und rot vor Angst und Wut.
„Raus! Und zwar sofort!“
Luisas Mann regte sich. „Was ist denn?“, grummelte er schlaftrunken.
„Gehen Sie, sonst rufe ich die Polizei“, kreischte sie.
Laetitius flog fast durch die Türen. Bevor er die Erde verließ, hörte er den Mann murren: „Was regst du dich auf? Da ist keiner.“
Er bebte. Seine Hände streiften das Lichtband, das ihn zu Luisa hinzog. Er versuchte, im blauen Schimmer seines Sees zu bleiben, aber der Sog wurde immer stärker. Er sehnte sich danach, ihr wieder in die Augen zu schauen, fürchtete sich vor dem, was ihn erwartete. Schließlich gab er nach und stand sofort in ihrem Zimmer. Nebelgrau troff die Verzweiflung von der Decke. Die Luft im Zimmer hemmte jede Bewegung, klebrig wie Brei. Aus dem Bad drang ein Schluchzen. Laetitius verbarg sich hinter einer Gardine, als Luisa in das Zimmer wankte, gestützt von der Hand ihres Mannes.
„Das Medikament wirkt nicht mehr.“ Ein Hustenanfall warf sie auf das Bett.
Laetitius starrte auf ihr Schlüsselbein, das unter der pergamentartigen Haut hervorspitzte.
„Dieser Spanner hat mich krank gemacht! Ständig ist er in der Nähe.“
Ihre Worte schnitten durch Laetitius Seele.
„Das bildest du dir ein, Luisa. Dich verfolgt niemand.“
„Ja, sag nur, ich bin verrückt.“ Orange Pfeile schossen aus ihren Augen. Der Hass leckte die letzte Kraft aus ihrem Körper. Ein Kokon aus Fäden der Einsamkeit umhüllte sie.
Laetitius ballte die Fäuste. ‚Fort von hier‘, dachte er. Gleichzeitig spürte er, dass er seiner Bestimmung nicht entrinnen konnte.
Fast ein Jahr beobachtete Laetitius Luisas Kampf gegen die Krankheit und die Qualen.
Schließlich trat er an ihr Bett. Ihr Blick wurde ruhig. Zum ersten Mal seit langem verschwand der fiebrige Glanz.
Sie rang nach Atem. „Wer bist du?“
„Ich bin der Tod“, antwortete Laetitius.
Luisa schüttelte fragend den Kopf.
„Ich sollte dich heim geleiten, aber ich konnte nicht. Deine Augen…“
Luisas Blick vertiefte sich in seinen. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Meine Augen gleichen deinen“, sagte sie.
Ein rosa Schimmer erhellte den grauen Flor, der ihr Herz verschleierte.
„Ich habe dir jemanden mitgebracht.“ Laetitius winkte eine alte Frau ans Bett.
„Großmutter!“
Die Alte streichelte sanft die Wange der Jungen. „Hab keine Angst! Es tut nicht weh.“
Der Tod hob die Sense. Als die Perlen der Wiedersehensfreude anfingen in Luisas Herz zu hüpfen, schlug er zu.
Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreiblust-Wettbewerbs Juli 2006 unter dem Thema „Stalking“. (Schreiblust-Verlag)