Begegnung der anderen Art

Juni 2006

Für Dr. Peter Plichta, der seinen Kindheitsträumen treu bleibt.
Mein Dank gilt Matt Ruff und Douglas Adams für ihre gnadenlose Phantasie, die mich inspirierte.

Zorga stand auf seiner Terrasse hoch über dem Atlantik und genoss die Abendstimmung. Der Himmel leuchtete rosa-blau über dem spiegelglatten Meer. Die ersten Sterne glitzerten.

Plötzlich zuckten Blitze am Himmel. Es sah so aus, als gingen Tausende von Sternschnuppen nieder. Riesige Haarsträhnen durchschnitten die Stratosphäre, glitten in elegantem Schwung zur Erde hinab und streiften den Ozean.

„Atemberaubend schön!“, war Zorgas erster Gedanke.
„Atemraubend“, dachte er, als ihn eine Flutwelle gegen seine Villa quetschte und baumdicke Haare das Dach abrasierten. Das zurückströmende Wasser riss ihn mit sich. Er schlitterte bis zum Geländer, an dem er benommen hängen blieb. Sein Hirn ratterte: „Überdimensionales Frauenhaar? Bedrohen Außerirdischen unseren Planeten?“

Ein glucksendes Piepsen ertönte. Zorga griff in die Brusttasche. Wasser tropfte aus dem Handy.
„Zorga!“, brüllte es ihm entgegen, kaum dass er die grüne Taste berührt hatte. „Ich bin gleich bei dir! Hast du DAAAS gesehen?“
Über ihm erschien ein Plichta-Mobil.
„Los! Komm schon!“, schrie es aus dem Handy und von oben gleichzeitig.
Ächzend rappelte er sich auf und erklomm die Leiter, die ins Innere des Raumgleiters führte. Eine Wespenkönigin auf der Suche nach einem Nistplatz schlüpfte unbemerkt mit durch die Luke.

Das Plichta-Mobil schoss in einem sanften Bogen ins Weltall.
„Ist es für diese Höhen ausgelegt?“, fragte Zorga mit einem Blick auf die Anzeigen. Er ließ sich neben Antonio in den Sessel plumpsen.
„Hab ’n bisschen dran rumgebastelt. Für ’n paar Stunden kann ich im luftleeren Raum navigieren.“
Zorga schwitzte. „Hast du eine Idee, was das war?“
„Nöh. Sah krass aus, wa? Gleich verlassen wir die Erdatmosphäre.“

Mit offenen Mündern starrten sie auf die riesigen Haarbüschel, die gemächlich an der Erde vorbeischwebten. Das Fellknäuel, das den Planeten touchiert hatte, qualmte. Eine langhaarige Mähne ohne Kopf und Körper. Zorga atmete als erster wieder: „Lebt das?“


Im Hochsicherheitstrakt der Internationalen Behörde für extraterristische Beobachtungen herrschte Aufregung.
„Die Flutwelle setzte mehrere Küstenstädte unter Wasser!“
„Haben wir es mit einer Lebensform zu tun?“
„Eindeutig organischen Ursprungs. Die Spektralanalyse der Flammenblitze ergaben einen hohen Kohlenstoffgehalt.“
„Chef! Wir können mittlerweile mehr als 1000 Objekte differenzieren. Die Ausdehnung eines dieser Wesen entspricht ungefähr dem Durchmesser des Mondes!“
„Stehen uns noch mehr Kollisionen bevor?“
„Nein. Sie entfernen sich wieder von der Erde. Sollen wir versuchen, Kontakt aufzunehmen?“
„Ja, setzt die ‚Banner‘ frei!“

Hoch über der Erde starteten die Mitarbeiter der Behörde eine kleine Sonde. Nachdem sie den Satellitengürtel verlassen hatte, entrollte sie ein langes, leuchtendes Banner mit einer Skizze des Sonnensystems und der Aufschrift: „Willkommen auf der Erde! Terra – Sol – Milchstraße“


Zorga lehnte sich in seinen Sessel zurück. „Lass uns heimfliegen!“
„Nach Hause?“, schimpfte Antonio. „Du hast wohl ’n Schuss wech! Ich will ran.“
Er fummelte an den Steuerungen und das Plichta-Mobil näherte sich einem Fellknäuel, das gerade die Erde passierte. Wie Tentakeln schwangen die Haare hin und her. Bald konnten sie Einzelheiten ausmachen.
„Willst du da rein?“ Zorgas Finger krallten sich in die Armlehnen.
„Plichta-Mobil auf Kollisionskurs mit Flugobjekt“, meldete das Bordsystem. „Korrigiere Kurs um drei Grad.“
„Was is’n hier unterwegs?“, wunderte sich Antonio.
Die Sonde mit dem kilometerlangen Banner tauchte auf dem Bildschirm auf.
„Ein Gruß von der IBeB“, grinste er.
„IBeB?“
„Internationale Behörde für extraterristische Beobachtungen.“
Sirenen fiepten, eine rote LED blinkte. „Längliche Objekte auf Kollisionskurs!“
„Schitt“, stöhnte Antonio.
Zorgas Augen folgten der Haarsträhne, die in ungeheurer Geschwindigkeit auf sie zuraste.
Sie machte einen leichten Schwenk Richtung Sonde und zertrümmerte sie. Von der Wucht abgelenkt, schwang das Willkommensbanner hoch und schnürte die Haare zu einem Zopf zusammen. Die Antikollisionskontrolle des Raumgleiters veranlasste einen Satz nach vorn und das Plichta-Mobil blieb in den feiner strukturierten Haaren weiter innen hängen.
Zorga rieb sich seinen schmerzenden Kopf. Sie wurden sanft hin und hergewiegt.
„Bruchlandung unbeschadet überstanden. Und draußen: Sauerstoffatmosphäre. Genial!“ Antonio schnappte sich eine Kettensäge, öffnete die Sicherheitsschlösser der Luke und kletterte hinaus.
„Antonio! Was soll denn das?“ Resigniert sank Zorga in sich zusammen.


Die Wespenkönigin wackelte mit ihren Fühlern. Ein besonderer Duft zog sie an. Sie krabbelte aus dem Raumgleiter und summte Richtung Zentrum des Fellbüschels. Die Haare wurden immer feiner und dichter. In einer kleinen Ausbuchtung weckten Wärme, Geruch und Umgebung in der Wespe einen Instinkt: Hier war der ideale Nistplatz.


„Los, hilf mir Zorga!“
Antonio reichte ihm die Kettensäge, unterm Arm ein paar baumstammdicke Stücke des Haarbüschels.
„Was willst du damit?“
„Ich kenne jemanden bei der IBeB – die kaufen mir das für ’n Batzen Geld ab.
„Wenn wir überhaupt nach Hause kommen“, antwortete Zorga. „Dein Bordsystem hat vorhin gemeldet, dass wir uns außerhalb der Maximaldistanz zur Erde befinden. Die Wahrscheinlichkeit für eine Rückkehr steht eins zu tausend.“
Antonio setzte sich an die Fahrzeugkontrollen. „Ich starte die Rückschubturbinen.“
Die Maschinen brüllten auf, aber das Plichta-Mobil bewegte sich keinen Millimeter.


Die Wespe schnitt mit ihren Zangen feine Härchen aus dem Fell und löste so einen Reflex aus. Haare und Muskeln zogen sich um das Insekt zusammen. Dieses griff in seiner Panik zur einzig verfügbaren Waffe. Sein Stachel bohrte sich in das empfindliche Innere der fremden Entität. Ein Zucken ging durch das Fellbüschel und breitete sich bis zu den Tentakeln aus.


„Wie Flimmerhärchen in der Lunge“, dachte Zorga, als sich plötzlich die Haare um sie in Wellen aufbäumten. Mit einem Knirschen löste sich das Plichta-Mobil aus dem Gewirr und wurde Richtung Erde geschleudert.
„Auf Heimatkurs“, meldete das Bordsystem. Das Schnurren der Maschinen tönte durch die Pilotenkanzel.
„Voraussichtliche Ankunft in drei Stunden, siebzehn Minuten und zweiundvierzig Sekunden.“


„Wir sind zu Hause!“, brummelte Antonio.
Müde stolperte Zorga zur Luke und kletterte in die Morgendämmerung hinaus.
Im fahlen Licht begutachtete er das zerstörte Dach seiner Villa. Etwas hatte sich seit ihrem Aufbruch verändert.
„Was ist das?“, wunderte er. „In einer Nacht kann dort kein Gras gewachsen sein!“
Als er Antonio zum Abschied zuwinkte, erstarrte er. Auf dem Plichta-Mobil spross ein dichter Pelz aus Haaren.

Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreiblust-Wettbewerbs Juni 2006 unter dem Thema „Haare“. (Schreiblust-Verlag)

Autor: Barbara Seyfarth

Informatikerin Embedded Systeme (Automotive, Industrial Solutions) Safety + Security Certified Professional for Software Architecture (Advanced Level) Autorin