Mai 2006
Die Bürste strich sanft durch ihr Haar. Wieder und wieder.
„Ist es nicht genug?“, fragte Jehanne.
„Sie müssen glänzen, sie müssen glänzen!“, sang die Bürste.
Die blonde Pracht schimmerte in der Sonne, eng geschmiegt an Haupt und Schultern.
Schwerter klirrten auf Schwertern. Der Helm aus Haar leuchtete über dem Schlachtgetümmel.
Ein schwirrendes Insekt löste sich aus der Gruppe der Feinde und schoss auf Jehanne zu. Mit einem spitzen Schnäbelchen durchbohrte es ihre Schulter. Eben dort, wo die Haare verwirrt waren. Erschreckt …
… riss sie die Augen auf. Mit klopfendem Herzen betastete sie die unversehrte Haut unter dem rauen Stoff ihres Leinenhemdes. Durch die Spalten des Fensterladens blitzte das erste Tageslicht und die Vögel stimmten ihren Morgengesang an. Jehanne reckte ihre schmerzenden Glieder und glitt auf den kalten Steinboden. Andächtig kniete sie nieder. Erinnerungsfetzen an den Traum wirbelten durch ihren Kopf. Was würde heute geschehen? „Maria, Mutter Gottes. Du bist voll der Gnade“, betete sie. Ihre Gedanken wurden klarer und ruhiger. Die Gegenwart der Gottesmutter erfüllte ihr Herz mit Zuversicht. Der Traum verblasste. Nur eines war wichtig: die Belagerung von Orléans aufzuheben, um dem Dauphin Charles die Salbung zum König zu ermöglichen.
Nachdem sie die Unterkleider angezogen hatte, öffnete Jehanne die Tür.
„Louis. Komm!“
Schüchtern trat der Page ein, den ihr der Hausherr, Jean de la Brosse, zur Verfügung gestellt hatte.
„Hilf mir mit der Rüstung!“
Der Junge schleppte den Harnisch herbei und legte ihn dem kaum älteren Mädchen an.
„Wie haltet Ihr das Gewicht aus?“, wunderte er sich.
Glucksende Laute stiegen in Jehanne auf. „Ich komme vom Land! Glaubst du, wir sitzen am Ofen und sticken Teppiche?“, lachte sie. „Bei uns müssen alle auf dem Feld und im Stall mit anpacken. Da bekommt eine Frau Kraft.“
Augenzwinkernd fügte sie hinzu: „Aber ich gestehe es. Alle Glieder schmerzen und ich weiß selber nicht, wie ich diesen Tag durchstehen soll. Wenn mich der Erzengel Michael nicht führte, würde ich sofort aufgeben.“
Niemand durfte merken, wie anstrengend die Kämpfe der letzten beiden Tage für Jehanne waren. Zusätzlich unterzog sie sich täglich den Waffenübungen ihres Begleiters Gilles de Rais.
„Du schlägst drauf, als wäre dein Schwert ein Stock und deine Feinde Kühe, die du in den Stall treibst“, neckte er sie.
Aber sie war unverletzlich. Gott behütete sie vor Unheil.
Die Halle lag im Obergeschoss des Hauptgebäudes. Jehanne straffte ihre Schultern und trat ein. Die Befehlshaber des Heeres stimmten gerade das Vorgehen der verschiedenen Einheiten ab.
„Heute wird die Festung Les Tourelles fallen!“, rief Jehanne ihnen zu.
Ehrerbietig neigten die Adeligen ihre Köpfe zum Gruß.
„Jehanne la Pucelle, einen guten Morgen!“ Jean de la Brosse ging mit langen Schritten auf sie zu und geleitete sie zu dem Tisch, auf dem die Karten der Brücke über die Loire und der Befestigungsanlagen um Orléans ausgebreitet lagen.
„Ihr werdet gemeinsam mit Florent d’Illiers die Loire überqueren und den Boulevard des Tourelles angreifen.“
„Es ist mir eine Ehre!“, antwortete Jehanne mit einem Kopfnicken in Florents Richtung.
„Gilles de Rais kämpft an Eurer Seite. Ihr müsst die Engländer ablenken. Diese beiden Brückenbögen sind zerstört. Zimmerleute werden versuchen, Übergänge zu schaffen, damit wir zum schwächsten Punkt der Festung gelangen: dem Tor auf der Brücke.“
Nachdem Jehanne die Pläne der Strategen studiert hatte, folgte sie einem Winken Gilles, der das Geschehen aus einer Fensternische beobachtete. „Das hast du wieder gut eingerichtet, de Rais! Immer an meiner Seite.“
„Von höchster Stelle befohlen“, lächelte der junge Mann.
„Von zweithöchster!“, antwortete Jehanne keck.
„Erzengel Michael schützt dich mit Gottes Schwert und ich behüte dich mit dem des Dauphins“, bestätigte Gilles.
Gedankenverloren schaute Jehanne aus dem Fenster. Sie zuckte zusammen, als Gilles plötzlich auf das Metall ihrer Rüstung tippte.
„Louis ist nicht sorgfältig genug. Du musst ihm auf die Finger hauen, wenn er seine Pflichten vernachlässigt.“
Irritiert betrachtete sie die Rostspuren auf dem Brustpanzer und der Traum vom frühen Morgen zog noch einmal an ihrem inneren Auge vorbei. Entsetzt erkannte sie seine Bedeutung. Ihr wurde übel. Gilles ergriff stützend ihren Arm.
„Was ist mit dir, Jehanne?“
Besorgt strich er über ihre Wange. Abwehrend schüttelte sie ihren Kopf und sagte laut: „Viel Arbeit steht uns bevor, mehr als bisher. Heute wird Blut meinen Leib über der Brust färben!“
Die Befehlshaber waren schon im Aufbruch. Bei ihren Worten erhob sich ein Raunen und nervöse Blicke streiften Jehanne.
Der Ansturm auf Les Tourelles kam nur zögerlich in Gang. Jehanne, die sonst rücksichtslos in der vordersten Reihe kämpfte, schaute immer wieder nach oben. War sie noch außer Reichweite der Armbrustschützen? Ihre Gedanken kreisten um den Traum. Zweifel nagten an ihr: Hatte Gott sie fallen lassen? Was war aus ihrer Unverletzlichkeit geworden? ‚Geheiligte Maria, wann habe ich gefehlt?‘ Sie starrte auf den Leib eines gefallenen Kampfgefährten. Ihr graute. Zum ersten Mal wurden ihr die Schrecken des Krieges bewusst. Warum jetzt? Sie versuchte, ihre alte Zuversicht zurück zu erlangen. ‚Ich muss meine Mission erfüllen! Ich bin auserwählt!‘ Aber da war ein neues Gefühl in ihrer Brust: Angst.
In einem ruhigen Augenblick näherte sich Gilles.
„Wo bleibst du? Du wirst gebraucht!“
Jehannes Pferd tänzelte nervös. Spürte es ihre Unruhe? Gilles Blicke wanderten zu den Arbeiten an der Brücke, die nicht weiter zu kommen schienen. Plötzlich öffnete sich eine Pforte in der Festungsmauer.
„Ausfall von links!“, schrie er.
Jehanne wendete ihr Pferd. Die Sonne, hoch am Himmel, blendete sie.
Der Erzengel Michael stand mit erhobener Klinge vor ihr und befahl: „Vertraue Gottes Plan!“
Sie preschte auf die Engländer zu. Schwert klirrte auf Schwert. Mit einem Streich fällte sie einen Mann. Der Pfeil einer Armbrust traf sie und riss sie rücklings vom Pferd.
„Jehanne!“
Gilles war sofort an ihrer Seite und wehrte die Hiebe zweier Feinde ab. Mit Hilfe eines Soldaten zog er die Verletzte aus dem Schlachtgetümmel.
„Lasst mich!“, kreischte Jehanne.
„Wenn du weiterkämpfst, verblutest du!“ Gilles Stimme klang rau. Er wählte fünf Männer aus, die das Mädchen fort trugen.
„Mon Dieu!“, sagte der Arzt und räusperte sich. „Mit oder ohne Alkohol?“
Jehanne starrte ihn verständnislos an.
„Möchtet Ihr Eure Schmerzen mit Alkohol betäuben?“
Sie schüttelte den Kopf. Achselzuckend griff der Arzt zum Messer und operierte die Pfeilspitze aus dem Fleisch.
Krampfhaft biss Jehanne ihre Zähne zusammen. Drei Männer hielten sie fest. Als die Schmerzen unerträglich wurden, fiel sie in Ohnmacht.
Voller Wut schlug sie um sich. Aber sie konnte keinen der Schmetterlinge erschlagen. Lachend tanzten sie um Jehanne herum und neckten sie. Da stand der Erzengel Michael vor ihr. Von der Spitze seines Schwertes troff Blut. Die Schmetterlinge setzten sich auf die Klinge und tranken davon, als sei es Nektar.
Zornig funkelte Jehanne ihren Ratgeber an. „Wieso?“
Wieder flatterte es. Zarte Flügel streiften ihre Stirn. Die Schmetterlinge echoten: „Wieso? Wieso denn nur?“
Michael ergriff Jehannes Schwert und zeichnete die fünf Kreuze nach, die in die Klinge eingraviert waren. „Jetzt kannst du deine Zweifel zerstreuen“, sagte er. Als sie die Waffe erhob, schwirrten die bunten Wesen davon.
Nun befand sie sich zwischen ihren Kampfgefährten vor den Toren der Festung.
„Ihre Waffen sind aus Holz und die Zimmersleute bauen eine Brücke aus Stroh!“, staunte Jehanne.
„Das Vertrauen in deine Mission ist nicht groß genug“, erklärte der Erzengel. „Sie brauchen ein Wunder, damit sich ihre Kraft voll entfaltet. Les Tourelles ist eine mächtige Feste. Bring deine Standarte zur Mauer.“
Gilles stand dicht über sie gebeugt, als sie die Augen aufschlug: „Jehanne!“
„Wie steht es?“, stöhnte sie.
„Sie denken an Rückzug.“
„Auf zur Festung!“ Mit einem Schmerzenslaut schwang sie sich hoch. „Wo ist meine Rüstung?“
„Jehanne“, antwortete Gilles vorwurfsvoll, „die Blutung ist gerade erst gestillt!“
„Dann ist es höchste Zeit!“ Zuversichtlich wie eh ergriff sie ihre Standarte, auf der die königlichen Lilien golden schimmerten. „Im Namen Gottes! Lasst es uns beenden. Für Charles, unseren zukünftigen König!“
Erhobenen Hauptes ritt Jehanne über die Brücke bis zu den zerstörten Steinbögen. Das Pochen in ihrer verletzten Schulter beachtete sie nicht.
„Die Übergänge sind noch nicht stabil“, warnten die Zimmersleute.
Jehanne sah den Erzengel Michael, der die Holzkonstruktion stützte. Ohne zu zögern trieb sie ihr Pferd über die schwankenden Balken bis zur Festung. Die Fahne hing schlaff an der Stange herab.
„Seht her, bis der Schweif meiner Standarte die Mauer berührt!“, rief sie kriegerisch.
Ein Windhauch spielte mit dem Stoff, hob ihn sanft hoch, so dass er über die Mauer strich.
„Nun lasst uns eintreten! Es liegt bei euch!“
Lächelnd hob Jehanne ihr Schwert. Die fünf Kreuze glitzerten in der untergehenden Sonne. Mit einem Schrei der Freude stürmten die Soldaten über die Planken auf die Festung ein. Das Tor gab nach und die Engländer fielen unter den Schwertern der heranbrausenden Flut.
Quellen:
Eschenhagen, Wieland: Personen der Weltgeschichte. Gütersloh: Chronik-Verl., 1995. ISBN 3-577-14510-2.
http://www.mairie-bonsecours.fr/jeanne_arc/histoire.html
http://www.stejeannedarc.net/
Musée Jeanne d’Arc de Rouen: www.jeanne-darc.com
The Trial of Jeanne d’Arc translated into english from the original Latin and French documents by W.P.Barrett: http://www.fordham.edu/halsall/sbook1m.html
Royal Financial Records Concerning Payments for Twenty-Seven Contingents in the Portion of Joan of Arc’s Army Which Arrived At Orléans on 4 May 1429. Joan of Arc: Primary Sources Series. ISSN: 1557-0355 (electronic format). ISBN: 1-60053-045-1 gefunden auf Historical Academy (Association) for Joan of Arc Studies http://primary-sources-series.joan-of-arc-studies.org/
Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreiblust-Wettbewerbs Mai 2006. (Schreiblust-Verlag)