Schneewittchen

Dezember 2005 – Zeitreise

Schneewittchen stand vor dem Feuer und schob mit der Eisenstange die brennenden Scheite zur Seite. Sie nahm einige glühende Kohlen auf die Schaufel und ging zu dem Tisch am Fenster, auf den sie die Wäsche gestapelt hatte. Alles lag bereit. Das Mädchen schüttete die Kohlen in das Bügeleisen und wartete darauf, dass sich das Metall erhitzte.
Da klopfte eine Bauersfrau an die Türe. Schneewittchen streckte den Kopf zum Fenster heraus und sprach: „Ich darf keinen Menschen einlassen, die sieben Zwerge haben mir’s verboten.“ „Mir auch recht“, antwortete die Bäuerin, „meine Äpfel will ich schon loswerden. Da, einen will ich dir schenken.“ „Nein“, sprach Schneewittchen, „ich darf nichts annehmen.“ „Fürchtest du dich vor Gift?“, sprach die Alte. „Siehst du, da schneide ich den Apfel in zwei Teile; den roten Backen iss du, den weißen will ich essen.“

Die Frucht duftete so verführerisch, dass Schneewittchen nicht widerstehen konnte, zugriff und herzhaft hineinbiss. Genüsslich bewegte sie das Stückchen im Mund und der Gedanke bemächtigte sich ihrer, dass sie sich viel Zeit für diesen Apfel lassen müsse. Sie begann, eines der Jäckchen vom Wäschestapel zu glätten. Süßes Wasser lief in ihrem Mund zusammen. Schneewittchen breitete ein weiteres Kleidungsstück auf der Bügeldecke aus und strich behutsam über den feinen Stoff, immer darauf bedacht, mit dem heißen Eisen nicht zu lange auf einer Stelle zu bleiben.
Mit leichtem Bedauern schluckte sie schließlich den letzten Bissen des Apfels hinunter. „Hmmmm,“ dachte sie, „noch nie in meinem Leben habe ich etwas so Köstliches gegessen!“

Plötzlich stiegen einige Rauchwölkchen auf und verwundert gewahrte Schneewittchen, dass der Stoff, den es bügelte, trotz ihrer steten, fließenden Bewegungen braun wurde. Sie stellte das Eisen auf die Metallplatte. Es roch verbrannt. War das Metall vielleicht zu heiß? Schneewittchen öffnete den Deckel. Die Kohlen erloschen vor ihren Augen. Vorsichtig prüfte sie mit ihrem Finger die Hitze und schrie verwundert auf. Das Eisen war kalt! Verwirrt schaute sie auf und sah, wie die Sonne hinter der Hausecke verschwand. Die Schatten wanderte mit wachsender Geschwindigkeit weiter.

„Wie spät es ist! Ich muss das Abendbrot richten!“ war ihr erster Gedanke, als schrille Geräusche den Raum füllten. Dies mussten die Stimmen der Zwerge sein, aber sie hatten nicht den tiefen und brummenden Klang, den Schneewittchen so liebte. Die Worte der Gesellen stürzten in hohen Tönen voller Hast auf sie ein. Wieso waren die kleinen Männlein schon heimgekommen? Sie hatte doch eben erst mit dem Glätten der Wäsche begonnen. Konnte die Zeit so schnell verstrichen sein? Wie Licht- und Schattenschleier huschten ihre Freunde umher.

Schneewittchen wollte gerade ihre Arme zur Begrüßung ausbreiten, als sie plötzlich den Fußboden unter ihrem Rücken spürte. Die Zwerge hatten sie sanft hingelegt, aber Schneewittchen konnte sich gar nicht erinnern, wann das geschehen war. Bevor sie ein Wort sagen konnte, brach die Nacht herein und um sie herum schwirrten und flackerten kleine Lämplein, die plötzlich erloschen. „Die Zeit vergeht wie im Flug.“, stellte das Mädchen erstaunt fest. Einige Augenblicke später wurde es taghell und sie blickte auf die Holzdecke des kleinen Häuschens. Schon dunkelte es wieder und hellte sich wieder auf und der Wechsel zwischen der Schwärze und dem Licht ging immer schneller vonstatten.

Das einzige, was Schneewittchen kurz darauf erfassen konnte, war das Waldgrün, das in den Phasen der Helligkeit über ihr leuchtete und die weichen Kissen, in die sie gebettet worden war. Dann wurde das Flackern so schnell und unruhig, dass sie verzweifelt die Augen schloss, um die Schmerzen der Anstrengung in ihrem Kopf zu mildern. „Bin ich denn krank?“ fragte sich Schneewittchen. „Ich fühle mich ganz wirr und unwohl!“ Ihre Erschöpfung war so übermächtig, dass sie schließlich einschlief.

*

Langsam tauchte Schneewittchen aus den Tiefen ihres Schlafes auf. Mit der wachsenden Bewusstheit des Erwachens regte sich ihre Verwunderung über den Traum, den sie in dieser Nacht geträumt hatte. Plötzlich spürte sie, wie ihr Bett vibrierte und unter einem heftigen Schlag erzitterte. Erschreckt öffnete Schneewittchen ihre Augen. Sie hob den Deckel vom Sarg in die Höhe und richtete sich auf.
„Ach Gott, wo bin ich?“, rief sie. Der Königssohn sagte voller Freude: „Du bist bei mir“, und erzählte, was sich zugetragen hatte: „Ich habe dich lieber als alles auf der Welt; komm mit mir in meines Vaters Schloss, du sollst meine Gemahlin werden.“ Da war ihm Schneewittchen gut und ging mit ihm.

Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreiblust-Wettbewerbs Dezember 2005. (Schreiblust-Verlag)

Autor: Barbara Seyfarth

Informatikerin Embedded Systeme (Automotive, Industrial Solutions) Safety + Security Certified Professional for Software Architecture (Advanced Level) Autorin