Ima

November 2005

Aufgeregt hüpfte Stefan vor dem Fenster auf und ab. Wann kamen sie endlich? Das Auto von Papa war immer noch nicht in Sicht. Dabei hatte er gesagt, dass er mit Ima zum Mittagessen zu Hause sein würde. Das war aber schon lange vorbei. Stefan rannte die Treppe runter vor die Tür. Vielleicht konnte er dort das Auto früher sehen. Ima war seine liebste Oma, die bis vor zwei Monaten alleine in einer weit entfernten Stadt gewohnt hatte. Jetzt war sie krank, so sehr, dass sie nicht mehr alleine wohnen konnte. Also hatten Papa und Mama das Gästezimmer ausgeräumt und einen Teil von Imas Sachen dort hineingestellt. Sie sollte heute zu ihnen ziehen. Stefan fand das einfach nur genial. Mit Ima konnte man so toll spielen und lustig sein. Und jetzt würde sie für immer bei ihm bleiben. Für immer! — Draußen wurde es Stefan zu kalt. Er rannte wieder hoch ans Fenster, auch wenn er dort nicht die ganze Straße entlangblicken konnte. Endlich tauchte Papas Auto auf! Juchu, dachte Stefan und schon war er wieder vor der Haustür.

Papa stieg aus dem Auto aus und umarmte seinen kleinen Jungen. Stefan zappelte in seinen Armen und guckte nach seiner Ima. Wieso war sie noch nicht aus dem Auto draußen? Papa ging zur Beifahrertür und öffnete sie. Vorsichtig half er ihr heraus und gab ihr einen Stock in die Hand. „Ima!“, schrie Stefan und stürmte auf seine Oma zu. „Nu, nu, nu. Nur mal nicht so stürmisch!“ sagte Papa. Ima beugte sich zitternd zum aufgeregten Jungen hinunter und küßte ihn auf die Haare. „Sei gegrüßt, mein Schatz.“ sagte sie etwas undeutlich. Stefan verstand sie gar nicht richtig. Er verstand auch gar nicht, warum sie ihn nicht umarmte und warum sie diesen Stock in der Hand hatte und warum Papa sie immer noch fest am Arm hielt. Langsam, ganz langsam, wie eine Schnecke, so erschien es Stefan, gingen Papa und Ima nach drinnen. Es dauerte ewig, bis sie die Treppe hoch waren. Stefan drängelte sich ungeduldig vorbei und sprang schon voraus, um Ima seine neuen Spielsachen zu zeigen. So wie es immer gewesen war, wenn Ima zu Besuch kam. Aber diesmal war sie nicht zu Besuch. Diesmal war es irgendwie anders. Stefan begriff noch nicht so genau, warum. Aber es machte ihn ein bisschen traurig und auch wütend. Weil alles so langsam ging. Und weil Ima so komisch war.

Jetzt war Ima schon ein paar Monate bei ihnen. Stefan war sehr still geworden. Er musste eine ganz neue Ima kennenlernen, eine Ima, die ruhig in ihrem Sessel saß und ihm bei seinen Spielen zusah. Ima lachte auch nicht mehr so viel wie früher. Aber wenn sie mit ihm sprach, manchmal, wenn er zu ihr in den Sessel kletterte, dann war sie doch irgendwie wieder seine alte Ima, nur viel ruhiger und langsamer. Sie erzählte ihm Geschichten und streichelte seine Haare und lächelte. „Stefan, ich sagt dir was, das müssen Papa und Mama nicht unbedingt wissen. Aber für dich ist das ganz wichtig.“ Stefan schaute Ima aufmerksam an. Irgendwie sah sie ein bisschen anders aus als sonst, noch ein bisschen ruhiger. „Während wir hier sitzen, stehen meine beiden Schwestern neben mir und auch der Opi. Glaubst du mir das?“ Erstaunt schaute Stefan herum. „Ich sehe die aber gar nicht!“ „Das kannst du auch nicht, mein Schatz, sie sind doch schon tot. Und sie sind gekommen, um mich auch mitzunehmen.“ „Wohin?“ fragte Stefan erschrocken, „Du wolltest doch für immer bei uns bleiben?“ „Ja, Liebling, jetzt ist aber die Zeit gekommen, wo meine Seele diesen Körper verlassen muss. Mein Körper ist krank und kann seine Aufgaben nicht mehr weitermachen.“ Stefan klammerte sich ängstlich an Imas Arm. „Bist du dann auch tot, Ima?“ „Ja, nicht mehr lange, dann bin ich auch tot.“ Stefan fing an zu weinen: „Ich will aber nicht, dass du tot wirst!“ „Ach du Süßer“, seufzte Ima, „wenn du mal ganz alt und krank bist, dann hole ich dich auch ab, so wie jetzt der Opi mich abholt.“ „Versprochen?“ „Versprochen!“

Nach der Beerdigung stand Stefan neben dem leeren Sessel. Dicke Tränen kullerten aus seinen Augen. Nun war sie fort, seine Ima — für immer. Schnüffelnd schaute er durch den Tränenschleier auf das Bild von Opi, das neben Imas Sessel hing. Plötzlich spürte er einen leichten Lufthauch, der durch seine Haare strich. Warm und tröstlich — und dann fielen ihm wieder Imas Worte ein. Da wusste Stefan, dass es doch nicht für immer war. Er schniefte nochmal kräftig und dann sagte er leise: „Bis später, Ima!“

Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreiblust-Wettbewerbs November 2005. (Schreiblust-Verlag)

Autor: Barbara Seyfarth

Informatikerin Embedded Systeme (Automotive, Industrial Solutions) Safety + Security Certified Professional for Software Architecture (Advanced Level) Autorin